Gedanken am Grab

Mein bester Freund hat sich das Leben genommen. Von ihm zu erzählen, holt ihn zurück ins Leben. Hier sind einige persönliche Gedanken und Geschichten.

Ich soll über meinen besten Freund U[..] reden. U[..], von dem jetzt ein Häufchen Asche in einer – wahrscheinlich – kompostierbaren Urne übrig ist. Da muss ich meine Überforderung bekennen. Mir ist nach Schreien und Heulen, aber nicht nach Reden.

So eine Trauerfeier mit ihren Ritualen und Reden soll ja die Schmerzen lindern und den Verlust erträglicher machen. Bei mir macht sie in diesem Moment den Schmerz nur größer.

Mir ist nach Schreien und Heulen, aber ich soll über meinen besten Freund U[..] reden, von dem jetzt nur noch ein Häufchen Asche in einer kompostierbaren Urne übrig ist.

Vielleicht fange ich einfach an.

U[..] und ich haben beide Physik studiert. Aus U[..] wurde aber, anders als aus mir, ein richtiger Physiker. Seine Neugier und seine Experimentierlust kannten wenige Grenzen. Er dachte unglaublich gerne über die Welt nach, und dabei entstanden wunderbare Gedanken. Gespräche mit ihm waren immer schön und bereichernd.

Ich erinnere mich an eine Diskussion über den freien Willen auf U[..]s Balkon bei Bier (wir beide) und Zigaretten (er). Ob es den gäbe, und wenn nicht, woran man das merken könnte.

Wir kamen zu dem Schluss, dass es für die menschliche Existenz egal ist, ob wir frei seien. Es genüge, wenn wir alle den Glauben an die Freiheit teilen und unsere Leben danach einrichten.

Wir haben dann über Parasiten gesprochen, die das Verhalten ihrer Wirte beeinflussen. Den Gedanken, wir Menschen könnten von solchen Parasiten befallen werden, fanden wir interessant.

Der kleine Leberegel ist so ein Parasit. Menschen befällt er nur sehr selten.

Der Egel hat einen komplizierten Vermehrungszyklus mit mehreren Zwischenwirten. In einem Schritt muss die Larve aus einer Ameise zurück in ein Schaf. Die Larve schafft das, indem sie in das Ameisengehirn eindringt und die Ameise willenlos macht. Die Zombie-Ameise erklimmt einen Grashalm und beißt sich dort fest, bis sie von einem Schaf abgeweidet wird und so im Schafmagen landet. Da will die Larve hin. U[..] fand das alles irre interessant.

Über seine Abgründe und Nöte hat U[..] kaum gesprochen. Von seiner Depression ahnte ich mehr, als ich wusste. Jetzt habe ich ein Bild von ihr. Ich stelle ich sie mir wie eine schwarze Made vor, die in einem Kopf sitzt.

Aber ich soll nicht von mir reden, sondern über meinen besten Freund U[..], von dem jetzt nur noch ein Häufchen Asche in einer kompostierbaren Urne übrig ist.

Eine andere Geschichte. U[..] und ich hatten nach meinem Wegzug aus Berlin eine typische Männerfreundschaft. Typisch, weil die Freundschaft mit wenig Nahrung auskam. Gelegentliche Telefonate, E-Mails, Kurzbesuche in Berlin.

Geburtstage hatten mit Geringschätzung behandelt zu werden. Trotzdem gelang es uns manchmal – und das war wirklich zufällig! – an diesen Tagen zu telefonieren.

Am 12. Juli haben wir geredet. Wir sprachen über den Coronalockdown und die Veränderungen an den Hochschulen. Ich hatte da gerade eine anstrengendes Onlinesemester hinter mir. U[..] erzählte von den Küchentischexperimenten, die er sich für seine Studierenden ausdachte.

Ein Experiment: Die Studierenden sollten eine Bierdose auf dem Rand balancieren, Schritt für Schritt austrinken und nachmessen, wie sich der Schwerpunkt verschiebt. U[..] meinte dann noch, dass er die Lösung mathematisch berechnen wollte. Das sei aber schwieriger als gedacht gewesen. An den Differentialgleichungen habe er sich die Zähne ausgebissen. Er hätte aber einen koreanischen Kumpel gefunden, der die Rechnung machen konnte.

So war U[..].

War er so? Etwas stimmt mit diesem Satz nicht. U[..] ist noch da.Wenn wir über ihn reden, dann machen wir ihn wieder ein wenig lebendig.

Frank Stäudner, im Oktober 2020

4 Gedanken zu „Gedanken am Grab

  1. Mein Beileid! Wenn ich Deinen Text wirken lasse, spüre ich mit jeder Faser, wie tief Eure Freundschaft war (auch wenn oberflächliche Leute sie möglicherweise nicht einmal wahrgenommen hätten).

    • Ich glaube fest an die Freiheit und Autonomie des Einzelnen. Trotzdem ist ein Freitod kaum auszuhalten für die Nächsten. Ich trage daran noch lange. Der Tod meines dementen Vaters am Ende eines guten Lebens wird leichter anzunehmen sein.

      • Danke, Frank. Ich schwank(t)e immer regelmäßig zwischen Trauer, Mitleid mit ihm, und großen Wut über die Rücksichtslosigkeit uns anderen gegenüber. Jetzt, da ich selbst Kinder habe, das größte Geschenk aller Zeiten für mich, kann ich noch mehr erahnen, wie verzweifelt jemand wohl sein muss, wenn er so etwas „freiwillig“ aufgibt.

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