Vor dem Heidelberger Hauptbahnhof erstreckt sich die offene Weite des Willy-Brandt-Platzes – wenn da nicht viele hundert Fahrräder der Pendler wären. Dicht an dicht stehen rostige Zweiräder und recken ihre Sättel und Lenker in die Luft.
Zu Tausenden grasen Gnus und Zebras die Serengeti-Savanne ab. Aus der Luft wirkt es fast, als formten die großen Antilopen eine einzige Masse lebender Leiber. Die Tiere fressen sich Fettpolster an, bevor die Trockenzeit die Steppe in Staub verwandelt. Bald steht die große Wanderung in neue Weidegründe bevor. Was für ein gewaltiges Schauspiel! Auf dem Heidelberger Bahnhofsvorplatz bahnt sich etwas Ähnliches an.
Zu Hunderten stehen die Fahrräder der Pendler in Reih und Glied in den Fahrradständern. Kein Poller und keine Laterne, an der nicht rostige Zweiräder angekettet sind. Selbst der Pavillon der Touristeninformation muss als Abstellplatz herhalten.
Wer später zur Arbeit fährt, findet alle Ständer belegt vor und quetscht sein Fahrrad halt irgendwo dazwischen. Das hinterlässt Spuren: hier ein abgerissenes Dynamokabel, dort ein zerschlitzter Sattel, Rost allenthalben. Ein stolzes Pendlerrad trägt seine Narben mit Würde. Das Kalkül der Besitzer scheint klar: Sich in die heruntergekommene Masse des Schwarms unauffällig einzufügen, ist die denkbar beste Diebstahlsicherung.
Doch es droht Gefahr. Die Zahl der Fahrradleichen steigt. Der geübte Blick erkennt sie sofort: platte Reifen, krumm getretene Räder. Manches von seinem Besitzer verlassene Rad dient bereits als Ersatzteillager. Dann fehlen Sattel, Bremsgriff oder Kabel. Das ruft die Gesundheitspolizei der Savanne auf den Plan. Mitarbeiter der Bahnhofsverwaltung verpassen den verdächtigen Vehikeln eine Markierung, meist eine farbige Banderole am Oberrohr. Jetzt wird’s eng. Wurde das Rad auch nach Tagen und Wochen nicht bewegt, wird es eingesammelt. Anfang Oktober nun kommen die herrenlosen Fahrräder in einer öffentlichen Versteigerung unter den Hammer. Die große Wanderung beginnt.
Frank Stäudner