Es ist kompliziert

Das Bezirksamt von Berlin-Köpenick hat zwei Aktfotos aus einer Ausstellung entfernt. Die betroffenen Hobbyfotografen werfen der Behörde Zensur vor. Die Empörung in Medien und Kommentaren ist groß und einhellig: Die Freiheit der Kunst werde mit Füßen getreten. Doch so einfach ist die Sache nicht. Die Entscheidung war richtig, aber nicht gut begründet.

Die Ausgangslage

Berliner Fotoclubs zeigen Arbeiten ihrer Mitglieder im Rathaus Köpenick. Im April 2016 stellen knapp 200 Amateurfotografen 330 ihrer Werke aus. Über die Auswahl der Fotografien entscheiden die Clubs. Nun hat das Kulturamt zwei Aktfotos aus der Ausstellung entfernen lassen. Einer der betroffenen Fotografen ist Wolfgang Hiob, dessen Clubmitglieder aus Solidarität alle Werke zurückgezogen hat. Die Empörung ist groß, nachzulesen etwa in der WELT, im Tagesspiegel und in den zugehörigen Kommentaren dort und auf Twitter.

Die Argumente der Behörde

Kulturamtsleiterin Annette Indetzki begründete den Schritt der Behörde doppelt. Erstens hätten sich Rathausmitarbeiterinnen und eine Bürgerin beschwert. Zweitens wolle man die religiösen Gefühle von Migranten nicht verletzen.

Die Argumente der Kritiker

Der kleine Bildersturm bringt viele Kommentatoren auf die Palme. Sie sehen die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit verletzt. Zudem opfere die Behörde im vorauseilenden Gehorsam für eine religiöse Minderheit westliche Freiheitswerte. Andere Kritiker bezeichnen die Entscheidung als rassistisch, da sie Muslimen eine Haltung unterschiebe – nämlich sich von Nacktheit im öffentlichen Raum abgestoßen zu fühlen -, die selber Stereotypen bediene.

Pin-ups in der Autowerkstatt

War es denn nun richtig, die Aktfotos zu entfernen? In meinen Management- und Ethikkursen diskutiere ich einen ähnlichen Fall. Dort sollen sich die Studierenden in die Rolle des Filialleiters eines Autohauses versetzen, bei dem sich eine Kundin sehr energisch beschwert. Sie fühlt sich sexuell belästigt. Der Grund: In der Werkstatt haben die Mechaniker großformatige Aktaufnahmen aufgehängt. Kunden können die Pin-up-Poster sehen, wenn sie den Wagen zur Inspektion bringen.

Einig sind sich die Studierenden stets, dass die Poster abgehängt werden müssen und der Filialleiter die Pflicht habe, umgehend dafür zu sorgen. In den Details gibt es interessante Variationen, so schlagen die Studierenden oft vor, dass die Mechaniker ihre Poster an einer anderen, für Kunden nicht zugänglichen Stelle wieder aufhängen dürfen. Aber alle sind sich einig, dass im Konflikt der Ansprüche das Recht der Kundin, sich nicht sexuell belästigt zu fühlen, den Vorrang hat. Wohlgemerkt selbst dann, wenn das Gefühl der Belästigung subjektiv ist und keineswegs von allen Frauen geteilt werden muss. Die Studierenden billigen in der Sache somit Frauen ein individuelles Vetorecht zu. Begründet wird es damit, dass die Kundin keine Möglichkeit hat, den Anblick der Aktposter zu vermeiden, es sei denn um den Preis, die Werkstatt zu wechseln.

Nun könnte die geneigte Leserin* argumentieren, die bis hierhin durchgehalten hat, dass es doch einen Unterschied mache, ob künstlerisch wertvolle Aktfotos oder aufreizende Ausklappbilder entfernt werden sollen. Dem möchte ich mit dem Argument begegnen, dass es in der Moderne unmöglich geworden ist, objektive Kriterien dafür anzugeben, was Kunst sei und was nicht. *Männer sind mitgemeint.

Versuch einer Bewertung aus ethischer Sicht

Eine freiheitliche Gesellschaft muss sich tatsächlich nicht von einer Minderheit in Geiselhaft nehmen lassen und sich deren Wertvorstellungen zu eigen machen. Es ist ja gerade der Wesenskern der Freiheit, es auszuhalten, dass andere Menschen eigene Geschmacks- und andere Urteile fällen, die unseren eigenen Wertvorstellungen nicht entsprechen. Der Schlüssel zur Lösung scheint mir aber in der Wahlfreiheit zu liegen.

Rathausmitarbeiterinnen und Besucher haben diese Wahlfreiheit nicht. Sie müssen im Rathaus ihrer Arbeit nachgehen oder ihre Behördengänge erledigen und können sich dem Anblick der Aktfotos nicht entziehen. Wie im Beispiel der Autowerkstatt gilt deshalb: Wenn sich jemand beschwert, müssen die Fotos weg. Mit Zensur hat das nichts zu tun. Es hängen nur Bilder am falschen Ort. Vielleicht zeigen die Berliner Fotofreunde ihre Werke nächstes Jahr in einem Museum. Dann sehen nur jene Betrachter die anstößigen Bilder, die das auch wollen.

Schafft die Noten ab!

Die Notenvergabe an der Hochschule vergiftet die Beziehung zwischen Studenten und Dozenten. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die falschen Dinge. Sie korrumpiert die Lehrenden. Auch die Arbeitgeber orientieren sich an den Abschlussnoten und gehen dabei in die Irre.

Für Eilige: Eine Kurzfassung des Beitrags erschien als Gastkommentar im ZEIT-Chancen-Brief vom 4.2.2016. Hier weiterlesen.

Wer in den späten 80ern ein Physikstudium absolvierte, dessen Diplomprädikat setzte sich aus fünf Einzelnoten zusammen – vier mündlichen Prüfungen und einer Diplomarbeit. In der Nach-Bologna-Ära bringt der Absolvent eines Bachelorstudiums knapp 30 Prüfungen hinter sich, deren Resultate alle in die Gesamtnote einfließen. Das macht die Noten zum Dreh- und Angelpunkt im studentischen Leben. Von Beginn an sind Studierende auf die Prüfungsleistungen fixiert. Einige setzen sich dabei selbst fürchterlich unter Druck. Schon eine verpatzte Prüfung kann existenzielle Sorgen auslösen. Ein „Befriedigend“ im ersten Semester wird da schnell zum Vorboten späterer Arbeitslosigkeit.
Während des Kurses kreisen die Gedanken mehr um die Prüfung als um den gemeinsam bearbeiteten Stoff. „Ist das prüfungsrelevant?“ ist die wohl häufigste Frage, die Dozenten hören. Vorausgesetzt, in der Prüfung wird nicht nur Lehrbuchwissen abgefragt, sondern es werden Kompetenzen getestet, wäre die ehrliche (aber selten gegebene) Antwort: Alles ist prüfungsrelevant, auch das, was die Studierenden außerhalb der Präsenzveranstaltungen lernen, und möglicherweise sogar Dinge, die gar nichts mit dem Studium zu tun haben.
Es gäbe eine einfache Maßnahme, um für mehr Entspanntheit und zugleich Konzentration im Studium zu sorgen: Schafft die Noten ab. Wohlgemerkt: Schafft die Noten ab, nicht die Prüfungen. Selbstverständlich haben die Studierenden einen Anspruch darauf, eine ehrliche Rückmeldung zu ihrem Leistungsstand zu erhalten. Feedback ist für das Lernen unverzichtbar. Aber ein Beurteilungsgespräch zwischen Dozent und Student wäre dafür weitaus ergiebiger, als eine dürre Note ohne weitere Erläuterungen verpasst zu bekommen. Selbst dann, wenn es eine sehr gute ist.
Ohne Noten fiele der Anreiz zur Kumpanei weg, dem überarbeitete Professoren erliegen. Über 80 Prozent der Studierenden an deutschen Hochschulen erzielen stets gute bis sehr gute Noten. Und es werden immer mehr. Dem Wissenschaftsrat ist diese Noteninflation schon lange ein Dorn im Auge. Die Experten im Beratergremium der Bundesregierung glauben nicht, dass die Studenten immer besser werden. Treiber der Inflation ist vielmehr eine unausgesprochene Verabredung zwischen Dozent und Student nach dem Motto: Ich gebe dir eine gute Note, dafür lässt du mich bitte in Ruhe. Der Autor weiß aus vielen Jahren des Lehrens an Hochschulen, dass es Kraft kostet und die Redlichkeit strapaziert, der Versuchung zu widerstehen. Es wäre aber eine Menge gewonnen, wenn der Widerstand nicht nur aus der inneren Haltung des Hochschullehrers und seiner (oder ihrer) ethischen Grundüberzeugung heraus geleistet werden müsste. Wenn die Beurteilung der Studienleistungen von vornherein in Form von Feedbackgesprächen oder kleinen Gutachten erfolgt, ist das Problem der zu guten (und damit im Grunde unfairen) Benotung aus Faulheit einfach verschwunden.
Ich höre schon die Einwände: Was für ein Aufwand! Stimmt. Aber starke und schwache Studierende machen dann immerhin gleich viel Arbeit. Und clevere Dozenten werden die Beurteilung in die Lehrveranstaltung integrieren. Dann hält sich die Zusatzarbeit in Grenzen.
Zeugnis ohne Noten? Woran sollen sich die Arbeitgeber halten? Richtig ist, dass die Examensnote einmal im Berufsleben eine wichtige Rolle spielt, nämlich zu dessen Beginn. Später punkten Kandidaten in Bewerbungsverfahren mit nachgewiesenen beruflichen Erfolgen und im Job gezeigten Qualitäten. Doch die Examensnote ist nur eine Hilfsgröße. Unternehmen orientieren sich an ihr, weil die Bewerber noch wenig anderes vorzuweisen haben.
Anders herum wird deshalb ein Schuh draus: Wenn es keine Noten mehr gibt, werden andere Merkmale wichtig: die Dauer des Studiums, inner- und außeruniversitäres Engagement, Praktika. Das Plädoyer gegen Noten geht außerdem nicht so weit, Examenszeugnisse ohne Beurteilung auszustellen. Künftig gehört zum Zeugnis ein Kurzgutachten. Darin bündelt die Hochschule das Feedback, das die Studierenden über das ganze Studium hinweg erhalten haben.
Schon heute wird zum Zeugnis ein umfangreiches Diploma Supplement mitgeliefert, das die Studieninhalte und –umfänge detailliert auflistet. Künftig kommt ein Referenzschreiben hinzu, das über Kompetenzen und Fähigkeiten eines Absolventen Auskunft gibt und ähnlich aufgebaut wäre wie ein Arbeitszeugnis oder eines der Gutachten für Stiftungen und Begabtenförderwerke, die Dozenten ihren Studierenden schon heute dutzendfach ausstellen. Verwirklichungschance der Idee? Gering. Aber es tut gut, einmal darüber nachgedacht zu haben.