Das Gift des Kriegsgeschreis

Die Rede vom „Krieg gegen den Terror“ lenkt das Denken in eine grässliche Sackgasse. Das war nach dem Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers so. Und es geschieht nach den Terroranschlägen von Paris erneut. Gedanken, ausgelöst durch eine E-Mail aus dem September 2001.

Meine Frau grub über den Jahreswechsel in alten Erinnerungen. Sie fand eine E-Mail vom 13. September 2001. Darin fragte sie: „Sind wir jetzt im Krieg?“ Zwei Tage waren seit der Terrorattacke auf das World Trade Center vergangen, dreitausend Menschen tot. US-Präsident George W. Bush hatte bereits seinen Krieg gegen den Terror ausgerufen, Bundeskanzler Gerhard Schröder dem US-amerikanischen Volk die uneingeschränkte Solidarität der Deutschen erklärt. Ich schrieb eine beruhigende Antwort. Krieg fände zwischen Staaten statt. Davon seien wir weit entfernt. Terroristen ließen sich nicht mit Panzern oder Kampfflugzeugen bekämpfen, vielmehr sei es Sache von Polizei, Geheimdiensten, Anklagebehörden und Gerichten, Terrorgruppen entgegenzutreten, die die freie Welt bedrohten. Ich habe mich damals sehr geirrt. Und ich hatte vollkommen recht.

Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Das Reden in Begriffen des Krieges vergiftete das Denken der Politiker. Die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Verbündeten begannen tatsächlich, Krieg zu führen. Dabei warfen sie elementare Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft ebenso über Bord wie die Menschenrechte und die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates.

Es war völlig vergeblich. Die Bilanz ist verheerend:

  • Die US-Regierung ließ Terroristen und Menschen, die sie für Terroristen hielt, fangen, foltern und einsperren. Ohne Anklage und Prozess. Bis heute. Seither verbitten sich autokratische Herrscher jeder Färbung frech jede westliche Einmischung. Im Lager Guantanamo sitzen noch immer über 100 Gefangene.
  • Friedensnobelpreisträger Barack Obama lässt einen Drohnenkrieg führen. Ferngesteuerte bewaffnete Flugobjekte töten Terrorverdächtige aus der Luft – oder solche, die (teils dubiose) Geheimdienste dafür halten. Die Zahl der Toten in Afghanistan und Pakistan, wo die meisten Drohnenangriffe stattfinden, ist unklar. Klar ist, dass Millionen Menschen im Schatten des Todes leben müssen und Hunderte, wenn nicht Tausende Unbeteiligter starben. Und sterben. Mit jedem toten Kind, jeder toten Frau und jedem ohne Prozess getöten Terroristen tötet der Westen auch seine Werte. Genährt wird nur der Hass.
  • Die gewaltigen Militäraktionen des Westens im Irak und in Afghanistan haben Milliarden Dollar verschlungen und Zehntausende Leben gekostet. Erreicht haben sie nichts. Die Welt ist nicht sicherer, der Terror nicht schwächer. Stattdessen gibt es im Nahen und Mittleren Osten drei zerfallende Staaten, Syrien muss man mitzählen, in denen der Krieg aller gegen alle gut gedeiht.

Ich hatte also recht: Der Krieg gegen den Terror funktioniert nicht. Und ich habe mich geirrt: Er wird dennoch geführt. Hätten nüchternere Staatenlenker, als George W. Bush einer war, die Rede vom Krieg vermieden? Hätte die Geschichte einen anderen Pfad genommen, wenn sich die freie Welt zur entschlossenen Verteidigung ihrer Werte bekannt hätte? Dann wäre womöglich die Selbstermächtigung unterblieben, ohne Skrupel Unschuldige zu opfern, den Rechtsstaat und die eigenen Werte mit Füßen zu treten.

Wut und Trauer machen blind. Wir lernen nichts. Der französische Präsident Francois Hollande hat nach den Anschlägen von Paris im November 2015 dem Terrorismus den Krieg erklärt, wie Bush es 2001 tat. Die französische Luftwaffe wirft Bomben auf Syrien. Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Die Geschichte wiederholt sich. Erst als Tragödie, dann als Farce.*

 

*Im Original ein Zitat von Karl Marx: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Berlin 1972, S. 115. Online hier.

 

Das Gift der Symbolik

Islamisten und Islamkritiker sind sich ähnlich. Beide bedienen sich im Werkzeugkasten der Symbole, um sich ihre je eigene Welt zu erschaffen. Der Philosoph Ernst Cassirer hat die Mechanismen in seinem Werk beschrieben.

Der Mensch ist ein symbolisches Tier. Wir können uns Dinge vorstellen, die es gar nicht gibt. Durch den gemeinschaftlichen Glauben werden sie dennoch wirklich. Weil wir alle fest an den Wert von bunt bedrucktem Papier glauben, können wir damit Häuser, Autos oder Arbeitskraft kaufen. Geld, Menschenrechte, Religion existieren erst durch unsere Vorstellungskraft. Wir konstruieren und strukturieren unsere Welt durch Ausgedachtes.

Die islamistischen Mörder von Paris, die Terroristen des Islamischen Staats in Syrien und im Irak und die Dresdner Montagsdemonstranten von der Pegida sind sich darin ganz nah. Alle haben sich ein Zerrbild des Islam geschaffen, aus dem sie ihre Selbstermächtigung schöpfen. Die Überzeugung von der Berechtigung des eigenen Tuns ist so stark, dass sie ausreicht, um ein Dutzend Menschen dafür zu ermorden, dass sie sich über einen Religionsstifter lustig machen. Sie ist so stark, unter der Flagge des Glaubens tausende Frauen zu versklaven und zu vergewaltigen. Sie ist stark genug, gegen die angebliche „Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße zu gehen und ein allgemeines Unbehagen am Zustand der deutschen Gesellschaft zu artikulieren, das mit Fakten wenig zu tun hat. Alle haben sich einen Popanz gebaut. Die Psychologie hat längst erkannt, dass es mit der menschlichen Vernunft nicht so weit her ist, wie wir gerne meinen. Wir halten selbst dann an unseren Überzeugungen fest, wenn sie durch Fakten widerlegt wurden. Deswegen sind die Versuche der Medien und der etablierten politischen Parteien rührend, aber ganz vergeblich, Pegida-Anhänger mit Tatsachen zu begegnen. Ob in Deutschland fünf Prozent oder irgendwann sieben Prozent der Bewohner Muslime sind und es in Dresden kaum Ausländer gibt, ist für die Demonstranten und ihre Furcht vor einer „Islamisierung“ der Bundesrepublik offenkundig ohne Belang.

Stattdessen könnte es sich lohnen, Cassirer zu lesen. Der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Cassirer (1874 bis 1945) hat sich damit beschäftigt, wie Menschen in gesellschaftlichen Krisen reagieren. Im Jahr 1933 konnte Cassirer aus Deutschland entkommen. Aus dem britischen und später US-amerikanischen Exil beobachtete er Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus. Was er sah, hat er in seinem letzten Werk „Vom Mythus des Staates“ festgehalten. Demnach komme es in gesellschaftlichen Krisen zu einer Verunsicherung der Vernunft. Die Menschen bedienen sich dann im Werkzeugkasten von Religion, Mythos und Stereotypen, um sich ein neues Weltbild zu bauen. „In verzweifelten Lagen will der Mensch immer Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen – und die politischen Mythen unserer Tage [= der Weimarer Republik, F.S.] sind solche verzweifelte Mittel gewesen“, schreibt Cassirer.

Namentlich die Dolchstoßlegende von der vermeidbaren Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die angebliche jüdische Weltverschwörung gehören zu diesen Mythen. „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher.“ Politische Mythen bilden sich aber nicht einfach so. Sie sind Cassirer zufolge „künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt.“

Es bedurfte einiger Jahre und einer Menge an propagandistischem Geschick, die Juden zu Sündenböcken zu machen, aus der Gesellschaft auszustoßen und ihre millionenfache Ermordung vorzubereiten. Das Ergebnis ist bekannt. Dabei setzte der Nationalsozialismus nicht nur „eine Umwertung aller unserer ethischen Werte, sondern auch eine Umformung der menschlichen Sprache“ ins Werk, sagt Cassirer. Ganz unwillkürlich denkt man an die Pegida-Demonstranten und ihren Ruf von der „Lügenpresse“. Hier haben sich Menschen ein Feindbild gebaut, das ihr Weltbild stabilisiert. Was den Nazis die Juden waren, sind den Pegida-Demonstranten die Muslime. Und gegen die bürgerliche Presse polemisieren beide.

Cassirers Fazit fällt 1945 pessimistisch aus: „In der Politik haben wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. [..] Wir sind immer vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos bedroht. Wir bauen hohe und stolze Gebäude; aber wir vergessen, ihre Fundamente sicher zu machen.“ Die Antwort der US-amerikanischen Regierung auf den Anschlag des 11. September 2001 bestätigt die pessimistische Diagnose Cassirers. Die erfolgreiche Attacke auf New Yorks strahlende Zwillingstürme war nicht nur eine Tat von abscheulicher Brutalität und Grausamkeit. Sie strahlte auch eine ungeheure symbolische Gewalt aus. Die Regierung unter George W. Bush ließ sich zu einer ebenso starken symbolischen Antwort hinreißen. In der Folge des „Kriegs gegen den Terror“ entstanden geheime Foltergefängnisse. Terrorverdächtige wurde ohne Aussicht auf einen rechtsstaatlichen Prozess verschleppt und sitzen teilweise bis heute fest. Unbeteiligte und Unschuldige starben und sterben durch amerikanische Drohnen.

Die USA warfen konstituierende Werte eines jeden demokratischen Rechtsstaates über Bord. Darin mag der wahre Triumph der Terroristen liegen: Wir wurden wie sie. Wir teilten die Welt in Schwarz und Weiß, in uns und die. Pegida tut es. Die Islamisten tun es. Die Leute, die ihre Art der Vergeltung für die Morde in Paris üben und Moscheen beschmieren und Musliminnen bespucken, tun es. Wir anderen aber – wir sollten es nicht tun. Wie schwer das angesichts der Gewalt der Bilder sein kann, davon weiß Ernst Cassirer zu berichten.

Die Nüchternheit im Angesicht des Todes

Sie fehlt. Die Debatte um Sterbehilfe krankt an einem Übermaß an Emotionalität. Die Bundestagsdebatte am 13. November 2014 zeigt das klar. Der Sache tut das nicht gut. Sterbehilfevereine sind ein Preis der Freiheit. Ein Kommentar.

„Sternstunde des Parlaments“, „große Ernsthaftigkeit“ – die Berichterstattung ist nicht frei von Pathos. Die Bundestagsabgeordneten diskutieren in einer so genannten Orientierungsdebatte ohne Fraktionszwang. Sie wollen bis zum Frühjahr 2015 ein Gesetz zur Sterbehilfe vorbereiten.

Eine stabile Dreiviertelmehrheit der Deutschen wünscht sich, im Fall von Krankheit und Leid im Alter selbst über den eigenen Tod zu bestimmen. Wer noch die Kraft hat und sich selbst das Leben nimmt, der macht von seiner Freiheit Gebrauch. Er ist zwar in den Augen der Kirchen ein Sünder, aber kein Fall für das Strafgesetz. Wie auch. Er (die übergroße Mehrheit der Selbstmörder sind Männer) ist ja tot. Was aber ist zu tun, wenn ein Mensch auf Hilfe angewiesen wäre, sich das Leben zu nehmen? Darf er auf Hilfe hoffen? Die Debatte angesichts der letzten Fragen ist mit Gefühl aufgeladen. Gut tut ihr das nicht.

Kaum ein Abgeordneter ließ es an persönlicher Betroffenheit fehlen. Mit großer Eindringlichkeit schilderten Peter Hintze (CDU) und andere, wie sie Zeugen von Leid und Sterben im eigenen Familienkreis wurden. Alle argumentieren dabei mit der Menschenwürde, die zu schützen das höchste Gut sei, kommen aber zu völlig gegensätzlichen Positionen. Das ist auch kein Wunder.

Wer einen Grundkurs Philosophie besucht hat, der weiß, dass Verallgemeinerungen von Einzelfällen ihre logischen Tücken haben. Aus der Betrachtung des Einzelfalls lässt sich niemals eine allgemeine Regel begründen. Besser wäre es, ohne Bekundungen persönlicher Betroffenheit auszukommen und stattdessen einen Blick auf die Grundprinzipien zu werfen, mit denen wir unser Gemeinwesen organisieren.

Hier kommt die Menschenwürde ins Spiel. Alle berufen sich auf sie. Das Grundgesetz formuliert ihren Schutz als erste und wichtigste Aufgabe aller staatlichen Gewalt. „Würde“ ist aber ein deutungsbedürftiger Begriff. Sonst könnte ihre Anrufung nicht zu einander ausschließenden Positionen führen. Ich erlaube mir die bescheidene Meinung, dass die Autoren des Grundgesetzes den Artikel Eins unglücklich formuliert haben, indem sie einen abstrakten Begriff wählten. Er erlaubt es, Menschenwürde losgelöst von den einzelnen Menschen zu betrachten. Besser macht es die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.“ Hier knüpft die Verfassung die Grundrechte direkt und explizit an den Einzelnen.

Freiheit ist das Grundprinzip jeder freiheitlichen Ordnung. Sonst wäre sie ja nicht freiheitlich. Jeder erwachsene Bürger kann tun, was er mag. Grenzen seiner Freiheit setzt erst die Freiheit der anderen Bürger. Die Gesetze, staatlichen Institutionen, die Sozialversicherung, sie sind alle dazu da, diese Freiheit zu ermöglichen. Und da jeder, der seinem Leben ein Ende setzt, von seiner Freiheit Gebrauch macht, lässt sich ein Verbot der Sterbehilfe keinesfalls rechtfertigen. Das gilt, davon bin ich überzeugt, sowohl für passive wie aktive Sterbehilfe.

Paradoxerweise ist aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten. Kein Arzt darf einen Schwerkranken mit einer Giftspritze töten, selbst wenn dieser das unbedingt möchte. Einen Giftcocktail neben das Krankenbett zu stellen, das ist dagegen erlaubt. Mir erscheint die scharfe gesetzliche Trennung beider Situationen zutiefst willkürlich. Denn in beiden Fällen verwirklicht der kranke Mensch seine Freiheit.

Manche Menschen bedienen sich der Hilfe von Sterbehilfevereinen. In der Bundestagsdebatte zeichnete sich ein breiter Konsens ab, die gewerbliche Sterbehilfe zu verbieten. Dabei spielt sicher eine Rolle, dass manche selbsternannten Sterbehelfer wie der ehemalige Hamburger Senator Roger Kusch eine unangenehme Figur abgeben. „Niemand soll am Sterben anderer Geld verdienen.“ Dieser Impuls liegt nahe, er ist psychologisch verständlich. Dumm ist er dennoch. Denn was wären die Alternativen? Soll die Verantwortung bei den Ärzten liegen, Sterbehilfe gewissermaßen zur Kassenleistung werden?

Hierzu ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, ein Todkranker verlangt von seinem Hausarzt Hilfe beim Freitod. Der Arzt ist Katholik, der Wunsch bringt ihn in ein ethisches Dilemma. Sein Glaube verbietet den Selbstmord. Da die Sterbehilfe inzwischen aber von Staats wegen institutionalisiert ist, verpflichtet ihn das ärztliche Ethos (und ein Vertrag mit den Krankenkassen) darauf, seinen Patienten nicht abzuweisen. Wer einen Arzt nicht in diese oder eine ähnliche Zwangslage bringen möchte, der darf Sterbehilfe nicht entprivatisieren. Wir müssen es den Freiwilligen überlassen. Mit anderen Worten: Sterbehilfevereine sind ein notwendiges Übel. Sie sind der Preis der Freiheit. Wir sollten ihn zahlen.

Das Heidelberger Social-Media-Experiment

Bei der Heidelberger Oberbürgermeisterwahl 2014 wird sich Amtsinhaber Eckart Würzner durchsetzen. Mangels aussichtsreicher Gegenkandidaten ist die Wahl eine Formsache. Das macht ein kleines Twitterexperiment möglich. Gebt eure Stimme einem Kandidaten, der nicht auf dem Wahlzettel steht. Demonstriert damit die Reichweite sozialer Medien. Wählt mich.

Aktualisierung vom 27.10.2014. Eckart Würzner ist längst gewählt. Weil aber 1211 Stimmen auf freie Kandidaten entfielen, gab es das amtliche Endergebnis erst heute. Eine ganze Reihe von bekannten und weniger bekannten Personen erhielten sechs Stimmen oder mehr. Der sympathische Ex-Gemeinderat Derek Cofie-Nunoo bekam mit 69 Stimmen die meisten ab. Die beiden Twitterexperimentatoren Lars Fischer (@fischblog) und ich tauchen nicht in der Liste auf. Damit darf das Social-Media-Experiment als gescheitert gelten. Oder als produktiver Fehlschlag. Denn eine mögliche Interpretation könnte lauten: Twitterer sind für jeden Unfug zu haben, aber nicht für Scherze mit ernsthaften Angelegenheiten wie demokratischen Wahlen.

Am Sonntag, den 19.10.2014 wählen die Heidelberger Bürgerinnen und Bürger ihren Oberbürgermeister. Der parteilose Amtsinhaber Dr. Eckart Würzner stellt sich erneut zur Wahl. Ihn unterstützt ein breites Bündnis der bürgerlichen Parteien. Gegen Würzner tritt der ebenfalls parteilose Alexander Kloos an, der schon bei der letzten Wahl 2006, damals noch neben acht Konkurrenten, einen Anlauf genommen hatte. SPD und Grünen war es diesmal nicht gelungen, einen namhaften Gegenkandidaten zu finden. Alles andere als ein deutlicher Sieg für Würzner mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang wäre eine faustdicke Überraschung.

Zwar stehen auf dem Wahlzettel nur die Namen Würzner und Kloos. Die Wähler sind aber frei, auch andere Namen auf den Stimmzettel zu schreiben. Bei der Stichwahl im November 2006 machten immerhin 23 Wahlberechtigte davon Gebrauch (siehe amtliches Endergebnis der OB-Wahl 2006). Die Wählbarkeit ist so definiert: „Wählbar sind Deutsche im Sinne von Artikel 116 Absatz 1 des Grundgesetzes und Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, die vor der Zulassung der Bewerbungen in der Bundesrepublik Deutschland wohnen; die Bewerber müssen am Wahltag das 25., dürfen aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben und müssen die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit für die freiheitliche, demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten.“ Es ist zwar noch nie vorgekommen, dass ein Überraschungskandidat auf diese Weise gewählt wurde. Er oder sie müsste das Amt auch nicht antreten. Aber wenn eine Person mindestens sechs Stimmen erhält, dann muss sich der Wahlausschuss damit befassen.

Ich lade die in Heidelberg wahlberechtigten Leserinnen und Leser dieses Blogs zu einem kleinen Social-Media-Experiment ein: Geben Sie mir („Dr. Frank Stäudner“) Ihre Stimme bei der OB-Wahl am 19. Oktober 2014. Ich habe weder ein Wahlprogramm noch die Absicht, mich in der Kommunalpolitik einzumischen. Aber ich werde später an dieser Stelle über das Ergebnis berichten. Phantasienamen („Mickey Maus“) machen den Wahlzettel übrigens ungültig.

Es gibt naheliegende Einwände gegen das Experiment.

1) Freie, gleiche und geheime Wahlen sind das Herzstück der Demokratie. Damit darf man keine Scherze treiben. Außerdem verhöhnt es die ernsthaften Kandidaten.

2) Das so genannte Experiment beweist nichts. Weder sind die Fallzahlen groß genug für eine aussagefähige Statistik, noch lassen sich die Randbedingungen kontrolliert variieren.

Ich erwidere: Die Freiheit in einer Demokratie drückt sich insbesondere darin aus, dass ein Wähler mit seiner Stimme tun kann, was er will, und niemandem Rechenschaft schuldet. Es läge mir fern, Kloos und Würzner zu nahe treten zu wollen, die ich beide für honorige Männer halte. Ich vertraue auf ihre Souveränität. Gut möglich, dass das Twitterexperiment nichts beweist. Aber wenn man immer wüsste, was bei Experimenten rauskommt, dann müsste man sie nicht machen.

In diesem Sinn danke ich schon im Voraus recht herzlich für Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Frank Stäudner

 

Wählerbeschimpfung

Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten hat bei der Landtagswahl in Sachsen am 31.8.2014 die Stimme abgegeben. Regenwetter und das Ende der Sommerferien sorgten für einen Minusrekord von 49,2 Prozent. SPD-Chef Sigmar Gabriel machte noch am Wahlabend CDU-Ministerpräsident Stanislaw Tillich für die geringe Wahlbeteiligung verantwortlich. Gabriel nannte es eine „Dummheit“, den Wahltermin auf den letzten Ferientag zu legen. „Man sollte nicht darauf setzen, dass die Wähler im Urlaub sind,“ sagte der SPD-Chef im ZDF.

Anstelle des politischen Gegners hätte Gabriel mit den besseren Gründen die Wähler beschimpfen können. Immerhin gibt es dank Briefwahl keinerlei Grund, die Stimmabgabe zu verpassen. Wem Wählen wichtig war, der konnte es tun. Wenn dennoch weniger als die Hälfte der Sachsen wählen ging, dann war es der Mehrheit eben nicht wichtig genug. Dafür mag es respektable und weniger respektable Gründe geben. Die Diagnose von der Politikverdrossenheit ist schnell bei der Hand. Sie hat nur den Nachteil, dass nicht klar ist, wer für die Verdrossenheit verantwortlich ist. Nach verbreiteter Lesart sind es „die Parteien“, die den Wählern kein attraktives Angebot machen. Vielleicht sind es aber auch „die Wähler“, die nachlässig ihr demokratisches Grundrecht mit Füßen treten.

Nun dürfen Politiker nach etablierter Lehre niemals ihre Wähler beschimpfen. Gabriel blieb daher nur die Attacke auf Tillich. Journalisten haben mehr Freiheiten. Nikolaus Blome vom SPIEGEL hat es vorgemacht: „Koffer auspacken und Buntstifte spitzen war wichtiger, als den Rechtsextremen an jenem Ort eine Lektion zu erteilen, an dem Demokraten so etwas mit Würde erledigen können: an der Urne. Nur gut 48 Prozent, die zweitschlechteste Beteiligung bei einer deutschen Landtagswahl überhaupt, das ist wirklich ein übler Witz. Dafür sollten sich alle Nichtwähler in Sachsen schämen.“

Starke Worte. Dabei trifft eine geringe Wahlbeteiligung alle Parteien. Politikwissenschaftler meinen zwar, dass große Parteien stärker litten, weil die Anhänger kleiner Parteien im Mittel motivierter seien. Aber es haben am letzten Augustsonntag bestimmt auch NPD-Anhänger Buntstifte gespitzt. Am Ende fehlten der NPD 809 Stimmen, die mit 4,95 % den Wiedereinzug in den Landtag an der Elbe verpasste. Was für eine schöne Pointe.

Ist Schwarz + Weiß = Schwarz?

Warum die Formulierung „erster schwarzer US-Präsident“ versteckt rassistisch ist.

Barack Obama sei der erste schwarze US-Präsident. Das war nach seiner Wahl 2008 oft zu lesen. Jetzt ist es wieder so. Die Internetrecherche liefert 550.000 Fundstellen. Darunter befinden sich bekannte Nachrichtenmagazine wie der Focus (siehe hier) oder angesehene Tageszeitungen wie die Süddeutsche (siehe hier).

Meiner bescheidenen Meinung zufolge ist die Formulierung „erster schwarzer US-Präsident“ im besten Fall gedankenlos, im schlimmsten Fall rassistisch. Denn Obama ist bekanntlich der Sohn einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters. Es mag mit alten Apartheidregeln im Einklang stehen, bei dieser Abstammung das Kind zum Schwarzen zu erklären. Ich verstehe allerdings nicht, wieso liberale Kolumnisten und Redakteure so reden und schreiben. Das Weiße Haus übrigens ist sich des Dilemmas bewusst. Im gesamten Onlineauftritt der US-amerikanischen Regierungszentrale ist keine einzige Formulierung zu finden, die auf Obamas Hautfarbe abhebt. Das erscheint mir vernünftig und konsequent. Denn angesichts der Herkunft könnte man Obama mit gleichem Recht als Schwarzen wie als Weißen bezeichnen.

Wer ihn dennoch zum Schwarzen macht, übernimmt einen Maßstab, der üblicherweise von Rassisten, Freunden der Rassentrennung und anderen Anhängern unapettitlicher Gesinnungen benutzt wird. So bleibt ein alter Appell des Musikers Garland Jeffreys aktuell:
Father of coal, mother of pearl
Never too black to blush to pick up a white girl
The color of you, the color of me
You can’t  judge a man by looking at the marquee
(aus „Hail Hail Rock ‚N‘ Roll“ vom Album „Don’t Call Me Buckwheat“).

Ein tückisches Wort

Sollen Schwerverbrecher schon nach fünf Jahren die Chance eines Hafturlaubs bekommen? Bayerns Landesregierung hat gestern klargestellt, dass sie derartige Hafterleichterungen eisern ablehnt. (siehe SZ vom 18.4.12). Zehn andere Bundesländer können sich dagegen für einen früheren Beginn der Resozialisierung erwärmen. Mir drängt sich der Eindruck auf: Viele Debattenbeiträge sind von einem gedanklichen Kurzschluß beherrscht, der mit erheblichen semantischen Unzulänglichkeiten des Begriffs „Hafturlaub“ zu tun hat.

Bayerns Staatskanzleichef Thomas Kreuzer (CSU) sagt es so: „Haft dient nicht nur der Resozialisierung, sondern auch der Sühne.“ Man sieht die Gedankenkette förmlich vor sich: schweres Verbrechen – Strafe muss sein – lange Haft – und dann kriegt so ein Mensch auch noch Urlaub – aber nicht mit uns! Doch so psychologisch verständlich eine derartige impulsive Ablehnung auch sein mag, es gilt ihr zu widerstehen.

Denn erstens ist es keineswegs ausgemacht, dass ein begleiteter Ausgang aus dem Gefängnis (das ist mit „Hafturlaub“ gemeint) überhaupt als Hafterleichterung durchgeht. Ehemalige Gefängnisinsassen wissen zu berichten, dass das Schlimmste an der Haft die völlige Unterwerfung unter die Regeln einer totalen Institution gewesen sei. Wann ein Häftling isst, was er isst, wann er Freigang im Hof bekommt, was er liest – all das bestimmen andere für ihn. Dieses Gefühl der Fremdbestimmung nun könnte durch eine Unterbrechung der fremdbestimmten Routine eher noch verstärkt werden. Ohne über eigene einschlägige Erfahrungen zu verfügen, finde ich, dass das eher eine Strafverschärfung darstellt.

Das zweite Argument betrifft eine mögliche Fluchtgefahr. Wer noch viele Jahre sitzen muss, türmt eher nach fünf Jahren als nach zehn. Mag sein. Doch den „Hafturlaub“ bekommt ja nicht jeder. Man darf davon ausgehen, dass Anstaltsleitung und Gutachter auf Nummer sicher gehen werden. Denn die sehr unangenehmen Fragen der Presse nach einer Flucht will ganz sicher niemand beantworten. Das dürfte als Sicherheitsschranke allemal ausreichen.

Bleibt die Frage, wie man die Debatte um die Resozialisierung von langjährigen Häftlingen nüchtern führen kann. Vermutlich muss man die Frage der Strafe abkoppeln von der Frage, was nach der Haft kommt. Klar, Strafe muss sein. Ebenso klar ist aber auch: Genauso wichtig wie die Wiederherstellung des Rechtsfriedens ist es zu verhindern, dass der Straftäter rückfällig wird. Wenn das aus der Sicht der Profis nötig macht, einen begleiteten Ausgang bereits nach fünf Jahren zu gestatten, dann sollten sich die Justizminister nicht wegen irgendeines populistischen Bauchgefühls dagegen sperren.

Und es wird nötig sein, den tückischen Begriff des „Hafturlaubs“ von seinen unseligen Konnotationen von Traumschiff, Strand und Ferienspaß zu befreien. Das geht nur mit einem neuen Begriff. Mir ist kein guter eingefallen. Ich freue mich also über Vorschläge.

Frank Stäudner

Ein schöner Sonntag

Joachim Gauck wird gewählt, und der Bundespräsident zitiert Jorge Semprun

Was für ein schöner Sonntag: vier Stunden Bundespräsidentenwahl im Ersten und auf Phoenix gucken. Phoenix gewinnt. Die Kommentatoren sind super, da erfrischend uneitel. Und man kann endlich mal ungeschnitten erleben, wie Politik gemacht wird. Die ARD blendet bei den Regularien lieber weg, dabei ist die hibbelige Nervosität der beiden Protokollbeamten wirklich sehenswert, die Bundestagspräsident Norbert Lammert assistieren. Der große Bruder des kleinen Ereigniskanals hat lediglich die prominenteren Interviewgäste.

Dann ist Joachim Gauck gewählt. Und sein erster Satz seiner ersten kleinen Rede als Bundespräsident ist der Hammer. „Was für ein schöner Sonntag.“ Joachim Gauck zitiert Jorge Semprun. Chapeau, denke ich. Einen expliziten Bezug stellt Gauck dann aber zur ersten freien Volkskammerwahl her am Sonntag, den 18. März 1990. Auch von den Kommentatoren hat keiner die Anspielung auf den zweiten Band der Romantrilogie des spanischen Jahrhundertschriftstellers Semprun bemerkt, in der er seine Zeit als kommunistischer Widerstandskämpfer in der Haft im Konzentrationslager Buchenwald beschreibt.

Ich stelle mir vor, dass Gauck sich des Bezugs sehr wohl bewusst war und sich einen feinsinnigen Intellektuellenscherz erlaubt hat, indem er das Publikum den Zusammenhang selbst entdecken ließ.

Kommentatoren hatten ihm bekanntlich vor der Wahl vorgeworfen, er sei in seinen politischen und gesellschaftlichen Positionen zu eindimensional. Anderen Deutern des Politischen war aufgefallen, dass Gauck für den einen großen Umbruch der deutschen Nachkriegsgeschichte stehe, seine Gegenkandidatin Beate Klarsfeld dagegen für die Auseinandersetzung mit dem anderen und viel größeren Massenverbrechen stehe, das die Deutschen unter Anleitung Hitlers und seiner Partei begangen hatten. Mit der Reverenz an Jorge Semprun hat Gauck den vermeintlichen Gegensatz elegant aufgelöst. Was für ein schöner Sonntag.

Inzwischen haben die Qualitätsmedien ihre Qualität bewiesen. Der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und (Überraschung) dem Focus ist der Bezug zu Semprun heute aufgefallen. Was für ein schöner Montag.

Frank Stäudner

Deutschlands Asylunrecht

Gedanken zum Freitod von Mohammad Rahsepar

Die Krone des deutschen Grundgesetzes war bis zum Winter 1992 der Artikel 16: „Politisch Verfolge genießen Asylrecht.“ Dann aber verständigten sich die Parteien Union, SPD und FDP auf einen Asylkompromiss, der in 274 auf den alten Satz folgenden Wörtern das Grundrecht stark einschränkte. Wer aus einem sog. sicheren Drittstaat einreiste, konnte sich fortan nicht mehr auf das Grundrecht berufen. Da alle Nachbarländer Deutschlands als sicher gelten, war eigentlich nur noch eine Flucht mit dem Flugzeug möglich. Mit dem Asylkompromiss wurde außerdem die besonders schäbige Behandlung der Flüchtlinge abgesegnet. Asylbewerber mussten und müssen in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, dürfen nicht arbeiten und erhalten deutlich geringere Sozialleistungen als deutsche Staatsbürger.

Asylbewerber standen im Verdacht (der vielfach auch zutraf), verkappte Wohlstandsflüchtlinge zu sein, die sich mangels anderer Möglichkeiten (wie etwa ein Einwanderungsgesetz) als politisch Verfolgte ausgaben. Inzwischen ist das anders. Längst hat sogar die CSU akzeptiert, dass Deutschland Einwanderer braucht. Das Zuwanderungsgesetz von 2004 hat neue Wege geschaffen, um in Deutschland zu leben und zu arbeiten, ohne sich als politischer Flüchtling ausgeben zu müssen.

Die Grundgesetzänderung von 1992 jedoch hat weiter Bestand. Und man muss sie erfolgreich nennen. Die Zahl der Asylbewerber sank stark. Das Thema ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Vor wenigen Tagen wurde ich in Berlin in trauriger Weise daran erinnert. Abseits der belebten Friedrichstraße in Berlin erinnerte eine kleine Gruppe von Demonstranten an Mohammad Rahsepar. Der iranische Flüchtling hatte sich am 29. Januar in Würzburg das Leben genommen – aus Verzweiflung über ein Leben, das nur aus Warten bestand, wie in einem begleitenden Flugblatt zu lesen war.

Eine Forderung der Demonstranten ist mir in Erinnerung geblieben. Asylbewerber sollten sich selber eine Wohnung suchen dürfen und nicht länger zwangsweise einem Landkreis zugewiesen werden, den sie dann noch nicht einmal verlassen dürfen. Recht so. Es ist allerhöchste Zeit, dem deutschen Ausländerrecht ein wenig Menschlichkeit zurückzugeben. Wir nehmen Asylbewerbern ich Würde, wenn der Staat sie in alte Kasernen im Nirgendwo pfercht. Mehr noch: Wir nehmen uns selbst unsere Würde, indem wir es tun. Es ist höchste Zeit, den alten Artikel 16 ohne Wenn und Aber und Einschränkungen wieder in Kraft zu setzen. Damit wir Bürger dieses Landes stolz über Deutschland sagen können: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

Was der Bundespräsident nicht tun muss

Vor der Wahl Joachim Gaucks ist in den Kommentaren oft zu lesen, der Bundespräsident müsse der Gesellschaft Orientierung geben. Bei Google liefern die Stichworte „Gauck“, „Gesellschaft“ und Orientierung“ fast 200.000 Treffer. Über den Parteien stehend, soll der Amtsinhaber durch weise Reden das Vertrauen in die Demokratie stärken, gesellschaftlichen Veränderungsbedarf aufzeigen und dem Volk Mut machen. Die Aufgabenbeschreibung klingt auf den ersten Blick ganz plausibel. Und zu Joachim Gauck, der als großer Redner und Sänger der Freiheit gilt, scheint sie erst recht zu passen.

Aber stimmt das wirklich? Muss ein Bundespräsident dem Volk sagen, wo es lang geht? Ich meine, nein.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, sagt der Vater der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804). Genau! Darum geht´s. Das Volk soll selber denken. Erst recht in einer Demokratie. Der Souverän muss sich seinen eigenen Reim auf die Dinge machen. Natürlich soll er dabei die Experten, Politiker, Journalisten und alle anderen anhören, die bereit stehen, um die Dinge einzuordnen und zu erklären. Dass das schwierig werden kann, weil die vielen Stimmen kakophonisch durcheinanderquaken, sei zugestanden. Dass jedoch ein Weltweiser im Schloss Bellevue die Debatten beenden könne, ist eine weltfremde Vorstellung. Ich könnte mir vorstellen, dass es Joachim Gauck, dessen Lebensthema die Freiheit ist, sogar gefiele, wenn sich das Publikum die Freiheit nähme, wegzuhören.

Dann kann der Bundespräsident nämlich ganz entspannt all die Dinge tun, die zu tun sind: Botschafter empfangen, Orden verleihen, Staatsgäste begrüßen. Und sich seinen Reim auf die Dinge machen. Die Ansichten eines lebensklugen und gebildeten Mannes hören wir uns dann gerne an.