Ein schöner Sonntag

Joachim Gauck wird gewählt, und der Bundespräsident zitiert Jorge Semprun

Was für ein schöner Sonntag: vier Stunden Bundespräsidentenwahl im Ersten und auf Phoenix gucken. Phoenix gewinnt. Die Kommentatoren sind super, da erfrischend uneitel. Und man kann endlich mal ungeschnitten erleben, wie Politik gemacht wird. Die ARD blendet bei den Regularien lieber weg, dabei ist die hibbelige Nervosität der beiden Protokollbeamten wirklich sehenswert, die Bundestagspräsident Norbert Lammert assistieren. Der große Bruder des kleinen Ereigniskanals hat lediglich die prominenteren Interviewgäste.

Dann ist Joachim Gauck gewählt. Und sein erster Satz seiner ersten kleinen Rede als Bundespräsident ist der Hammer. „Was für ein schöner Sonntag.“ Joachim Gauck zitiert Jorge Semprun. Chapeau, denke ich. Einen expliziten Bezug stellt Gauck dann aber zur ersten freien Volkskammerwahl her am Sonntag, den 18. März 1990. Auch von den Kommentatoren hat keiner die Anspielung auf den zweiten Band der Romantrilogie des spanischen Jahrhundertschriftstellers Semprun bemerkt, in der er seine Zeit als kommunistischer Widerstandskämpfer in der Haft im Konzentrationslager Buchenwald beschreibt.

Ich stelle mir vor, dass Gauck sich des Bezugs sehr wohl bewusst war und sich einen feinsinnigen Intellektuellenscherz erlaubt hat, indem er das Publikum den Zusammenhang selbst entdecken ließ.

Kommentatoren hatten ihm bekanntlich vor der Wahl vorgeworfen, er sei in seinen politischen und gesellschaftlichen Positionen zu eindimensional. Anderen Deutern des Politischen war aufgefallen, dass Gauck für den einen großen Umbruch der deutschen Nachkriegsgeschichte stehe, seine Gegenkandidatin Beate Klarsfeld dagegen für die Auseinandersetzung mit dem anderen und viel größeren Massenverbrechen stehe, das die Deutschen unter Anleitung Hitlers und seiner Partei begangen hatten. Mit der Reverenz an Jorge Semprun hat Gauck den vermeintlichen Gegensatz elegant aufgelöst. Was für ein schöner Sonntag.

Inzwischen haben die Qualitätsmedien ihre Qualität bewiesen. Der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und (Überraschung) dem Focus ist der Bezug zu Semprun heute aufgefallen. Was für ein schöner Montag.

Frank Stäudner

Was der Bundespräsident nicht tun muss

Vor der Wahl Joachim Gaucks ist in den Kommentaren oft zu lesen, der Bundespräsident müsse der Gesellschaft Orientierung geben. Bei Google liefern die Stichworte „Gauck“, „Gesellschaft“ und Orientierung“ fast 200.000 Treffer. Über den Parteien stehend, soll der Amtsinhaber durch weise Reden das Vertrauen in die Demokratie stärken, gesellschaftlichen Veränderungsbedarf aufzeigen und dem Volk Mut machen. Die Aufgabenbeschreibung klingt auf den ersten Blick ganz plausibel. Und zu Joachim Gauck, der als großer Redner und Sänger der Freiheit gilt, scheint sie erst recht zu passen.

Aber stimmt das wirklich? Muss ein Bundespräsident dem Volk sagen, wo es lang geht? Ich meine, nein.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, sagt der Vater der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804). Genau! Darum geht´s. Das Volk soll selber denken. Erst recht in einer Demokratie. Der Souverän muss sich seinen eigenen Reim auf die Dinge machen. Natürlich soll er dabei die Experten, Politiker, Journalisten und alle anderen anhören, die bereit stehen, um die Dinge einzuordnen und zu erklären. Dass das schwierig werden kann, weil die vielen Stimmen kakophonisch durcheinanderquaken, sei zugestanden. Dass jedoch ein Weltweiser im Schloss Bellevue die Debatten beenden könne, ist eine weltfremde Vorstellung. Ich könnte mir vorstellen, dass es Joachim Gauck, dessen Lebensthema die Freiheit ist, sogar gefiele, wenn sich das Publikum die Freiheit nähme, wegzuhören.

Dann kann der Bundespräsident nämlich ganz entspannt all die Dinge tun, die zu tun sind: Botschafter empfangen, Orden verleihen, Staatsgäste begrüßen. Und sich seinen Reim auf die Dinge machen. Die Ansichten eines lebensklugen und gebildeten Mannes hören wir uns dann gerne an.