Heilige Kühe

Universitäten pochen auf die Exklusivität ihres Promotionsrechts. Wie gut sind ihre Gründe?

Frank Stäudner

„Das Promotionsrecht an Fachhochschulen ist ebenso überflüssig wie schädlich.“ Das sagt der ehemalige Berliner Wissenschaftssenator und Universitätspräsident George Turner. Er ist damit nicht allein. Universitätsprofessorinnen und –Professoren und ihre institutionellen Vertreter sind sich in weit überwiegender Zahl einig, dass die Verleihung eines Doktortitels das alleinige Privileg der Universitäten bleiben müsse. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, hielt Ende 2016 die Verleihung des Promotionsrechts an die Fachhochschule Fulda für „eine törichte Entscheidung“. Differenzierter äußerten sich die Akademien der Wissenschaften im Juli 2017 in einer Stellungnahme. Zwar stellen auch die Gelehrtenvereinigungen klar: „Ein autonomes Promotionsrecht für Hochschulen für Angewandte Wissenschaften wird von den Akademien nicht befürwortet.“ Aber die Autoren erkennen an, dass die Fachhochschulen und ihre Absolventen ein berechtigtes Interesse an einer Öffnung der Wege zur Promotion haben, das nicht einfach mit Verweis auf die Tradition weggewischt werden kann. Was aber sind die Gründe dafür, dass die Universitäten ihr angestammtes Recht so verbissen verteidigen? Welche Argumente führen die Verteidiger des Promotionsrechts an? Und vor allem: Wie gut sind sie?

Immer wieder lesenswert sind in diesem Zusammenhang die schon etwas älteren Empfehlungen des Wissenschaftsrates über die Vergabe des Promotionsrechts an nichtstaatliche Hochschulen (Drs. 9279-09). Die Autoren erinnern erst einmal daran, was eine Promotion überhaupt ist: „Kernbereich der Promotion ist die Dissertation. Die Dissertation stellt eine eigenständige Forschungsleistung dar, die das Wissen in einem bestimmten Wissenschaftsgebiet verändert und erweitert. […] Dies setzt sowohl ein systematisches Verständnis der jeweiligen Forschungsdisziplin als auch einen Überblick über benachbarte Forschungsgebiete voraus. Typischerweise wird die Promotion daher an der Universität als der die Gesamtheit der Wissenschaften integrierenden Institution abgelegt.“ (WR, a.a.O. S. 7) In Deutschland verleihen die Bundesländer das Promotionsrecht an Universitäten und gleichgestellte Hochschulen. Das Recht ist damit an die Institution gebunden, nicht an einzelne in ihr tätige Personen.

Dies wird leicht übersehen, denn die Betreuer der Dissertation nehmen meist eine markante Rolle ein. Im Begriff des Doktorvater bzw. der Doktormutter findet diese Rolle ihren sichtbaren Ausdruck, die Akademien sprechen von der „mentorenbegleiteten Individualpromotion“ als Grundmodell der akademischen Qualifikationsphase nach dem Erststudium. In der Praxis sorgt die Kombination aus dem Anspruch zu eigenständiger Forschung bei gleichzeitiger Aufsicht durch einen Betreuer regelmäßig für Konflikte. Aber das nur nebenbei.

Festzuhalten bleibt: Das Promotionsrecht ist ein Recht der Institution. Es gehört zu den konstituierenden Merkmalen der Universität. Nicht zuletzt begründet es den Anspruch der Universitäten auf eine exponierte Rolle im Wissenschaftssystem. Das Argument ist zwar zirkulär („Wir sind die Besten, weil wir die Besten sind.“). Aber weil die Position im System – zumal im Vergleich mit den Fachhochschulen – mit Privilegien einhergeht, gilt es sie zu verteidigen.

So weit zu den Gründen. Wie steht es um die inhaltlichen Argumente, warum nur Universitäten das Promotionsrecht ausüben können und sollen? Im Grunde sind es drei.

Das Traditionsargument. Dieter Lenzen sagt es so: „Wir dürfen nicht übersehen, dass das Recht Promotionen durchzuführen seit dem 14. Jahrhundert den Universitäten vorbehalten war.“ Nun ist es allerdings so, dass niemand den Universitäten das Promotionsrecht wegnehmen will. Dadurch büßt der Hinweis auf die historische Kontinuität an Überzeugungskraft ein. Dass etwas weniger wert dadurch wird, dass andere es auch haben, wäre zu prüfen. Außerdem wäre zu fragen, ob die Universität Hamburg heute noch viele Gemeinsamkeiten mit der Universität Padua der Frühen Neuzeit aufweist.

Zugestanden sein den Verfechtern des Traditionsarguments, dass das faktisch über Jahrhunderte Überlieferte zwar kontingent ist, also auch ganz anders hätte sein können, aber für das Selbstverständnis der Institution durchaus gestaltende Wirkungen haben kann und insofern wichtig ist.

Das Argument der fachlichen Breite. Wieder Lenzen: „Dass Universitäten dieses Privileg hatten, hatte den Grund, dass ein sehr breites Fächerspektrum angeboten wird, sodass eine Promotion in eine Vielfalt von Fächern eingebettet ist.“ Ähnlich sieht es der Wissenschaftsrat, wenn er die Fächervielfalt als konstituierendes Merkmal der Universität hervorhebt („ein im Wort „universitas“ angelegtes breites Fächerspektrum, WR, a.a.O. S. 10).

Mit Verlaub: Das klingt gut, ist aber Quatsch. Denn erstens sind die Fakultäten die bestimmenden Organisationseinheiten einer Universität, und der fachliche Austausch über die Fächergrenzen bleibt trotz aller Appelle zur Interdisziplinarität meist überschaubar. Für Wanderer zwischen den Welten, die etwa nach dem Studienabschluss für die Promotion von einer Fakultät in eine andere wollen, sind die Hürden sogar ausgesprochen hoch. Zweitens wird das so genannte Rigorosum zum Abschluss des Promotionsverfahrens mit Prüfung in drei unabhängigen Fächern an kaum einer Universität mehr praktiziert – vor allem deswegen, weil es für die Professoren zeitraubend und aufwändig wäre. Drittens bekämen kleine und mittlere Universitäten, die nicht das volle Fächerspektrum anbieten – also keine „Volluniversitäten“ sind – ein Problem. Sie erfüllen den gestellten Anspruch an „Universalität“ nämlich ebenso wenig wie Fachhochschulen. Andererseits prägen inzwischen Forschungscluster und andere virtuelle und institutsübergreifende Verbundstrukturen die Forschungstätigkeit weltweit. Es ist längst nicht mehr nötig, in Tübingen oder Göttingen alle Fakultäten in enger räumlicher Nähe zu haben, um den wissenschaftlichen Austausch zu ermöglichen. Das aber gilt für alle Hochschulen gleichermaßen.

Das Argument der funktionalen Differenzierung. Es geht ungefähr so: Universitäten bilden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus. Die Promotion ist ein Qualifizierungsschritt auf dem Weg zur eigenständigen Forscherpersönlichkeit mit dem Endziel einer ordentlichen Professur. Andere Hochschulen bereiten ihre Absolventen auf zwar anspruchsvolle, aber nicht im eigentlichen Sinn wissenschaftliche Fach- und Führungspositionen vor. Daher gehört die Promotion an die Universität – und nur dorthin.

Wer das Argument plausibel findet, dem sei erwidert: Die Sache hat mindestens zwei Haken. Erstens will von den knapp 30.000 Doktoren, die in Deutschland jedes Jahr ihre Promotion erfolgreich abschließen, nur ein Fünftel den Wissenschaftlerberuf ergreifen (vgl. https://www.academics.de/wissenschaft/nachwuchsprobleme_58476.html. Zweitens bilden Universitäten in ihren juristischen und medizinischen Fakultäten in erster Linie Praktiker aus.  Nähme man das Argument der funktionalen Differenzierung ernst, gehörte die Ausbildung von Richtern und Anwälten, Zahnärztinnen und Allgemeinmedizinern womöglich eher an eine Fachhochschule. Dass dem nicht so ist, hat seine Gründe in der Tradition. Jura und Medizin gehören nun einmal zu den höheren Fakultäten der mittelalterlichen Universität.

Alles in allem findet der Autor die Argumente für ein exklusives Promotionsrecht der Universitäten nicht sehr überzeugend. Vermutlich irrt er sich. Wer also bis hierhin durchgehalten hat, dem sei Dank abgestattet und die Einladung ausgesprochen, in die Diskussion einzutreten.

Wiedersehen nach 15 Jahren

Jeder Doktorand kennt das Gefühl des Überdrusses, das sich bei der Spurensuche in feinsten Verästelungen eines Forschungsgebiets einstellt – und das Gefühl der Befreiung, wenn die Arbeit endlich getan ist. Im Jahr 1998 war ich dermaßen erleichtert (und bedient), dass ich nach Abgabe der Pflichtexemplare nie wieder in der Arbeit geblättert habe. Jetzt aber nehme ich die Doktorarbeit erneut zur Hand. Kann der junge Autor von damals vor seinem Alter Ego von heute bestehen? Eine Reise in vergangene Geisteswelten.

„Virtuelle Erfahrung“ – der Titel kann sich auch heute noch sehen lassen. Im Nachhinein findet der Rezensent von heute es ein wenig erstaunlich, dass der Autor damals mit einem beinahe feuilletonistischen Titel bei den Gutachtern durchgekommen ist. Immerhin zollt ein Untertitel den akademischen Gepflogenheiten in der Philosophischen Fakultät Tribut und umreißt den Forschungsgegenstand: „Eine Untersuchung über den Erkenntniswert von Gedankenexperimenten und Computersimulationen in den Naturwissenschaften“.

Das Inhaltsverzeichnis ist mit fünf Kapiteln und drei Gliederungsebenen angenehm übersichtlich. Die Titel der Unterkapitel sind von unterschiedlicher Güte. Nicht alle erklären sich aus sich heraus. Das würde ich heute anders machen. Auf eine Besonderheit deutet das Abbildungsverzeichnis hin. Die Arbeit enthält gleich zehn davon – in wissenschaftsphilosophischen Arbeiten war und ist das eher ungewöhnlich. Dem kundigen Leser fällt zudem auf, dass das Manuskript mit dem Buchsatzprogramm LaTeX erstellt wurde. Wer sich erinnert, welche Fummeleien der Einbau von Bilddateien nötig machte, wird den Bilderreichtum der Arbeit extra zu würdigen wissen.

„Die rasch fortschreitende Entwicklung der Computertechnologie in den vergangenen fünfzig Jahren hat auch die Naturwissenschaften nachhaltig beeinflusst.“ Wer hätte das gedacht? Ein Knaller ist der erste Satz der Arbeit nicht. Hoffentlich erhebt sich die Arbeit später über den damit angedeuteten Problemhorizont. Gut gefällt mir, dass bald (Seite 2 der Einleitung) die Forschungsfrage klar umrissen wird: „Wenn in Teilbereichen der Naturwissenschaften auf die Naturbeobachtung in Form von Experimenten ganz verzichtet wird und an die Stelle der Experimente Computersimulationen treten, dann stellt sich die wissenschaftsphilosophische Grundfrage nach dem Status der betroffenen Naturwissenschaften als empirischen Wissenschaften. Diese Frage lautet: „Wie ist Naturwissenschaft ohne Naturbeobachtung im Experiment möglich?“ Ihre Beantwortung steht noch aus.“

Es folgen fünf Seiten, die die Belesenheit des Autors und dessen Vertrautheit mit den aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussionen demonstrieren. Dann wird es wieder interessant: „Der Wirklichkeitsbezug von Computersimulationen und ihre mögliche Rolle in den Naturwissenschaften ist wissenschaftsphilosophisch bisher kaum hinterfragt worden. Einen Anknüpfungspunkt für die Diskussion des Erkenntniswertes von Computersimulationen bietet allerdings die philosophische Debatte über Gedankenexperimente. Dort stellt sich die Frage, ob bzw. wie durch Denken allein Aussagen über die sinnlich erfahrbare und empirisch gegebene Wirklichkeit gewonnen werden können. Gedankenexperimente fügen der bestehenden empirischen Datenbasis kein neues Beobachtungsmaterial hinzu. Bereits bezüglich des Gedankenexperimentes muss also gefragt werden, ob der Wirklichkeitsbezug vorausgesetzt werden kann, ob er im Gedankenexperiment mit eigenen Mitteln hergestellt wird oder ob er vielleicht gar nicht besteht und die Aufgabe des Gedankenexperimentes im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess anders zu begreifen ist. Gleichlautende Fragen lassen sich für Simulationen stellen.“

Die Lektüre der Einleitung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits wird der Zugang zum Thema erfreulich klar dargelegt. Es gibt wenige philosophische Texte über Computersimulationen, aber es gibt Einiges über Gedankenexperimente. Lasst uns also gucken, was man in der älteren Debatte an möglichen Antworten für die neue Frage finden kann. Damit hat sich der Autor auf ziemlich clevere Weise eine Selbstermächtigung erteilt, die Philosophiegeschichte zu flöhen. Er tut das mit erkennbarer Freude daran, philosophische Klassiker wie Blaise Pascal in einen virtuellen Dialog mit zeitgenössischen Denkern wie Searle, Popper, Kripke zu zwingen. Andererseits irritieren Schwankungen in der Texthöhe. Zurückhaltende Argumente wechseln sich ab mit mutigen Wertungen.

Gerade manche Fußnoten erscheinen mir heute in ihren apodiktischen Urteilen arg präpotent. Dazu passt, dass der Autor im ganzen Text rund 20 mal „ich“ sagt. Ich (sic!) meine mich daran zu erinnern, dass der Autor mit dem Gebrauch des Personalpronomens eine bestimmte philosophische Absicht verfolgte. Wenn Philosophie im Wesentlichen als Austausch von Argumenten begriffen wird, dann gehört es zur intellektuellen Redlichkeit, Thesen und ihre Urheber klar zu benennen. Diese Haltung ist in der angelsächsischen Wissenschaftskultur verbreiteter als in der deutschen. Hierzulande gehört es zum guten Ton, als Wissenschaftler hinter sein Werk zurückzutreten und eine unpersönliche Form der Darstellung zu wählen. Dass sich der junge Doktorand damals bereits diesen Konventionen widersetzt hat, gefällt mir noch heute. Aber er ist ja später auch nicht Philosophieprofessor geworden, sondern Journalist und Wissenschaftsmanager.

Wie jeder typische akademische – also eilige – Leser bin ich inzwischen von der Einleitung zur Zusammenfassung gesprungen. Dazwischen habe ich kurz das Literaturverzeichnis gescannt. 152 zitierte Bücher und Aufsätze deuten auf hinreichenden Fleiß hin. Die kanonischen Werke sind allesamt vertreten. Aufsätze von Doktorvater und Zweitgutachter werden ebenfalls zitiert, auch wenn sie für die Fragestellung allenfalls am Rande wichtig waren. Der Autor weiß offenbar um die Gepflogenheiten der Zunft und um die Eitelkeit der Professoren.

Zurück zur Forschungsfrage: Was kann man durch reines Nachdenken über die empirische Welt lernen? Im Titel wurde (etwas) hochtrabend vom „Erkenntniswert“ gesprochen. Die Antwort lautet: „Ein Experiment mit Gedanken durchzuführen, bedeutet, Vorstellungen einer kontrollierten Variation zu unterwerfen. An Beispielen […] zeigt sich, dass diese Variation in bestimmten Fällen als ein deduktiver Vorgang aufgefasst werden kann, in dem der Inhalt synthetischer, empirisch gehaltvoller Prämissen expliziert wird. Als Prämissen, d. h. als Ausgangsbasis, von der das Experiment mit Gedanken seinen Ausgang nimmt, dienen Naturgesetze, Teile naturwissenschaftlicher Theorien oder andere Erfahrungssätze. Das Ergebnis der im Gedankenexperiment vollzogenen Explikation können Naturgesetze oder Erfahrungssätze sein, die vor der Durchführung des Gedankenexperimentes unbekannt waren. Da sich der empirische Gehalt der Prämissen auf die im Gedankenexperiment gezogene Schlussfolgerung überträgt, muss eine unabhängige empirische Überprüfung der Konklusion nicht erfolgen. In diesem Sinn kommt einem bestimmten Typus von Gedankenexperimenten […] eine eigenständige Leistung im Begründungszusammenhang naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu.“ Mit anderen Worten: Man kann durch reines Nachdenken nichts über die Natur lernen. Aber man kann durch Nachdenken über Theorien über die Natur Neues über diese Theorien lernen. Das finde ich eine noch immer ganz hübsche Einsicht.

Wer sich ein eigenes Bild machen möchte, kann die Arbeit hier als PDF herunterladen: Virtuelle Erfahrung.