Hände hoch

Sportler geben sich heutzutage nicht mehr die Hand. Sie klatschen sich ab. Autoritätspersonen wie etwa Schiedsrichter begrüßen sie noch auf die herkömmliche Art. Damit betont das Händeschütteln zugleich Distanz (zwischen Spieler und Referee) und schafft kumpelhafte Nähe (zwischen den Spielern der gegnerischen Mannschaften). Bei der Fußballeuropameisterschaft 2012 ist das gut zu besichtigen. Ein kulturphilosophischer Versuch, diesen Wandel zu verstehen.

Die Tennisspieler haben damit angefangen. Irgendwann nach dem Jahr 2000 entstand eine neue Mode. Spitzenspieler ersetzten das rituelle Händeschütteln nach dem Ende des Matches durch die amerikanische Art der kumpelhaften Begrüßung mit erhobenen Händen. Sie gaben sich „high five“, sie klatschten sich ab. Jahrzehntelang war das  anders. Im Januar 1981 gewann Björn Borg gegen Ivan Lendl das Mastersturnier in New York. Danach gab es zwischen beiden einen konventionellen Handschlag, siehe hier. Auch Boris Becker und Brad Gilbert gaben sich 1989 noch auf konventionelle Weise die Hand, ebenso Jim Courier und Mark Philippoussis 1995 oder Andre Agassi und Pete Sampras 1999 in Wimbledon. 2003 klatschten sich Roger Federer und Andre Agassi nach dem für Federer siegreichen Mastersfinale bereits ab (http://www.youtube.com/watch?v=tTB0-8WuWXo). Seither hat das Abklatschen das normale Händeschütteln in vielen Sportarten verdrängt.

Im Fußball entstand eine besonders interessante Situation. Dort gibt es inzwischen zwei Arten des Händeschüttelns. Untereinander klatschen sich die Spieler kumpelhaft ab, den Schiedsrichtern schütteln sie auf konventionelle Art die Hand. Das war beispielsweise so beim Relegationsrückspiel zwischen Hertha BSC Berlin und Fortuna Düsseldorf am 16. Mai 2012, das ansonsten eher durch den verfrühten Platzsturm der Fans in Erinnerung ist. Auch bei den allermeisten Spielen der jetzt ausgetragenen Fußballeuropameisterschaft praktizieren die Spieler beide Arten des Händeschüttelns. Untereinander klatschen sie sich nach dem Absingen der Hymnen ab, die Schiedsricher bekommen einen normalen Handschlag. Besonders interessant: Auch die Schiedsrichter klatschen sich ab.

Was passiert hier? Ich vermute, dass die Spieler unbewusst zugleich Distanz und Nähe herstellen. Untereinander drückt der erhobene Handschlag Zugehörigkeit aus. Obwohl sich die Spieler beider Mannschaften auf dem Platz als Gegner gegenüberstehen, gehören sie doch alle einer Gruppe an. Zugleich schafft die Variation der Begrüßung Distanz zu den Schiedsrichtern. Hier drückt sich aus: Ihr gehört nicht dazu. Was ja stimmt.

Es werden also Rollenbilder gefestigt, Funktionen bekräftigt und Reviere abgesteckt. Auch andere soziale Gruppen haben Rituale ersonnen, um die Gemeinschaft nach innen zu bekräftigen und die Differenz nach außen zu betonen. Man denke an die elaborierte Begrüßung, die die Bandenmitglieder einer US-amerikanischen Straßengang unter sich austauschen. Ähnliches ist in der Hip-Hop- oder Rap-Szene zu beobachten. Auch auf Schulhöfen wird man fündig: http://videos.rofl.to/clip/lange-begruessung. Jede Gang hat eigene Rituale, Farben, Tätowierungen. All das dient der Betonung der Differenz: Hier sind wir, dort sind die Anderen. Vergleichbares leisten die beiden Arten des Händeschüttelns im Fußballsport. Ob die unter Profifußballern beliebten großflächigen Tätowierungen auch eine soziale Funktion haben und eine bestimmte Botschaft ausdrücken sollen – das ist eine andere Frage. Und gehört in einen neuen Blog. Vielleicht wollen die TV-Fußballexperten Mehmet Scholl und Oliver Kahn die Frage des Händeschüttelns und seiner tieferen Bedeutung demnächst mal erörtern. Sie sind herzlich eingeladen.

Bahngeschichten: Die Liebesschlösser von Köln

Wer oft mit dem Zug aus dem Ruhrgebiet nach Nordbaden fährt, macht seit einiger Zeit in Köln eine spannende Beobachtung. Auf der Hohenzollernbrücke über den Rhein ist ein harter Überbietungswettbewerb im Gange. Tausende Liebesschlösser verzieren das Brückengeländer, mehrheitlich auf der Brückensüdseite. Zunehmend verdrängen übergroße Liebesbekenntnisse die handelsüblichen Vorhängeschlösser. Schwere Fahrradketten sind in Herzform in das Geländer geflochten. Selbstgeschweißte Riesenschlösser in Schuhkartongröße konkurrieren mit herzförmigen Metallplatten, auf denen sich „I und U“ ewige Liebe schwören. Noch wurde kein Bauwagen angekettet. Spätestens dann müsste das Kölner Ordnungsamt einschreiten. Der neue Trend zur Größe und Extravaganz ist symbolisch jedenfalls ziemlich interessant.

Der Brauch ist erst wenige Jahrzehnte alt. Nach Mehrheitsmeinung der Experten wurde er durch einen Roman des italienischen Bestsellerautors Federico Moccia bekannt (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Liebesschloss). Seither mehren sich die öffentlichen Orte, an denen Liebespaare ein Schloss anschließen und als Zeichen ihrer unverbrüchlichen Liebe und Treue den Schlüssel wegwerfen – gerne in einen Brunnen oder Fluss. Man kann das romantisch oder kitschig finden. Der Kölner Brücke verleihen die Schlösser jedenfalls eine ganz eigene faszinierende Aura. Hier haben viele Menschen Dasselbe getan und dadurch etwas Besonderes geschaffen.

Aber nun passiert etwas Eigenartiges. Manche Paare wollen sich von der Masse abheben. Zwar wollen auch sie vom besonderen Nimbus des Ortes profitieren, der ein Werk der Vielen ist. An den anderen Kölner Brücken sind bisher allenfalls vereinzelte Schlösser aufgetaucht. Auf den ersten Blick haben die Paare die Symbolik auf ihrer Seite: je größer das Schloss, desto größer die Liebe, die es verkörpert.

Man könnte sich aber auch fragen, warum I und U ihre Liebe so raumgreifend öffentlich bekräftigen müssen. Trauen die beiden ihren Gefühlen etwa nicht so ganz? Ist das äußere Bekenntnis deshalb so groß ausgefallen, weil es den kleinen Gefühlen im Innern beider Herzen Halt geben muss?

Ich frage mich außerdem, welchen Sinn das öffentliche Bekenntnis der Liebe überhaupt haben soll. Es mag als Ankerpunkt der Erinnerung dienen, wenn Jahre und Jahrzehnte später die (sich dann hoffentlich immer noch) Liebenden an den Ort zurückkehren. Den Passanten auf der Brücke aber bedeutet das Bekenntnis von I und U nichts. Das Gesamtwerk hingegen hat das Zeug zur Touristenattraktion.

Frank Stäudner

In den Bahngeschichten berichtet der Autor in loser Folge von seinen Reiseerlebnissen in den Zügen der Deutschen Bahn.