„Füße spüren!“

Wir lernen viel zu kopflastig. Das fängt schon in der Schule an. Da sitzen die Kinder brav in ihren Bänken und schreiben mit, was der Lehrer an die Tafel malt. Dass es auch anders (und besser) geht, wissen die meisten Leute nicht. Die europäische Kultur zeichnet sich durch die übergroße Wertschätzung der Kopfarbeit aus. Dadurch geraten wichtige Facetten des Lernens aus dem Blick. Das müsste nicht sein.

Vielleicht ist die Aufklärung daran schuld, dass Denker angesehener sind als Tänzer. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. … Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Das schrieb Immanuel Kant 1784. Mit seiner Betonung der Verstandestätigkeit befindet sich der große Philosoph in bester Gesellschaft. Schon immer galt in der abendländischen Kultur das Denken mehr als das Tun. Die alten Griechen gaben der episteme (dem abstrakten Denken) klar den Vorzug gegenüber dem Handwerk (techne). Die Ingenieure waren in den Augen der tonangebenden Geisteswissenschaftler mehr Handwerker als Wissenschaftler und mussten vom 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. um ihren anerkannten Platz in der akademischen Welt ringen. Der Bildungskanon des Bürgertums besteht zum überwiegenden Teil aus Büchern. Den Profisportlern der Gegenwart huldigen wir, beneiden sie vielleicht sogar um Glamour und Geld. Aber intellektuell für voll nehmen wir sie nicht.

Kurzum: Die Überhöhung der Kopfarbeit hat Tradition. Beim Lernen wird das zum Problem. Denn neue Erkenntnisse der Hirn- und Lehr-/Lernforschung zeigen deutlich: Lernen hat eine kognitive, emotionale und körperliche Komponente. Gute Weiterbildungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Lerninhalte ganzheitlich erfahrbar und erlebbar machen. Dadurch eröffnen sich den Teilnehmenden Erfahrungsräume, die weit über das rein kognitive Lernen hinaus gehen. Wer seinen ganzen Körper in Lernprozessen einsetzt, erreicht eine tiefere Reflexionsebene. Das muss man allerdings erleben, um es zu glauben.

Nur ein Beispiel: Wer vor Vorträgen und Auftritten Lampenfieber hat, dem hilft es meist wenig, seinen Text wieder und wieder durchzugehen. Besser ließe sich die Nervosität dämpfen durch die gezielte Konzentration auf den eigenen Körper und den Blick nach innen. „Spüren Sie ihre Füße“ lautet ein neuer Wahlspruch der Weiterbildung. In manchen Ohren mag das wie esoterischer Klimbim klingen. Doch wir meinen: Es ist an der Zeit, dem Körper zu seinem Recht zu verhelfen.

Fadja Ehlail / Frank Stäudner

Fadja Ehlail arbeitet als Lehrtrainerin für die Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie bildet dort u.a. interkulturelle Trainer aus und bietet Trainings an zu Hochschuldidaktik, Präsentation, Kommunikation und Diversität / Interkulturelle Kompetenz.

Frank Stäudner betreibt nicht nur diesen Blog. Er führt im Brotberuf die Geschäfte der Akademie.

Mehr über die Gestaltung von Lernprozessen, ganzheitliches Lernen, Weiterbildungen, Coaching, Organisationsentwicklung etc. auf den Seiten der Akademie unter www.ph-akademie.de.

Was der Bundespräsident nicht tun muss

Vor der Wahl Joachim Gaucks ist in den Kommentaren oft zu lesen, der Bundespräsident müsse der Gesellschaft Orientierung geben. Bei Google liefern die Stichworte „Gauck“, „Gesellschaft“ und Orientierung“ fast 200.000 Treffer. Über den Parteien stehend, soll der Amtsinhaber durch weise Reden das Vertrauen in die Demokratie stärken, gesellschaftlichen Veränderungsbedarf aufzeigen und dem Volk Mut machen. Die Aufgabenbeschreibung klingt auf den ersten Blick ganz plausibel. Und zu Joachim Gauck, der als großer Redner und Sänger der Freiheit gilt, scheint sie erst recht zu passen.

Aber stimmt das wirklich? Muss ein Bundespräsident dem Volk sagen, wo es lang geht? Ich meine, nein.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, sagt der Vater der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804). Genau! Darum geht´s. Das Volk soll selber denken. Erst recht in einer Demokratie. Der Souverän muss sich seinen eigenen Reim auf die Dinge machen. Natürlich soll er dabei die Experten, Politiker, Journalisten und alle anderen anhören, die bereit stehen, um die Dinge einzuordnen und zu erklären. Dass das schwierig werden kann, weil die vielen Stimmen kakophonisch durcheinanderquaken, sei zugestanden. Dass jedoch ein Weltweiser im Schloss Bellevue die Debatten beenden könne, ist eine weltfremde Vorstellung. Ich könnte mir vorstellen, dass es Joachim Gauck, dessen Lebensthema die Freiheit ist, sogar gefiele, wenn sich das Publikum die Freiheit nähme, wegzuhören.

Dann kann der Bundespräsident nämlich ganz entspannt all die Dinge tun, die zu tun sind: Botschafter empfangen, Orden verleihen, Staatsgäste begrüßen. Und sich seinen Reim auf die Dinge machen. Die Ansichten eines lebensklugen und gebildeten Mannes hören wir uns dann gerne an.