Bahngeschichten IX: Die gestohlene Zeitung

Eine Bahnreise ohne Tageszeitung ist möglich, aber sinnlos. Doch was tun, wenn der Bahnhofskiosk am frühen Morgen noch geschlossen ist?

Regelmäßige Leser meiner Bahngeschichten (und erfahrene Reisende sowieso) wissen, dass der schönste Ort im ICE der Speisewagen ist. Er ist zudem ein ganz egalitärer Ort. Egal ob Fahrschein erster oder zweiter Klasse, der Kellner serviert Kaffee und Frühstück ohne Ansehens der Person gleichermaßen freundlich. Da liegt es nahe, zweiter Klasse im Speisewagen zu reisen und das gesparte Geld in kulinarische Annehmlichkeiten zu investieren. Nur vom kostenlosen Zeitungsangebot für die Gäste der ersten Klasse sollte man die Finger lassen. Sonst gibt’s Ärger mit dem Schaffner.

Morgens um 4:28 Uhr geht der erste ICE von Heidelberg Richtung Norden. Der preisbewusste Freiberufler reist zu seinem Geschäftstermin in Bremen natürlich nicht am Vortag an und hat das Onlineticket zweiter Klasse mit Bahncard und 50 Prozent Rabatt gekauft, obwohl der Auftraggeber am Ende alles zahlt. So kostet die Fahrt in die Hansestadt im Norden und zurück nur 114 Euro statt der stattlichen 380 Euro, die ein Reisender ohne Ermäßigung in der ersten Klasse zahlt. Der Ledersitz, die kostenlose Tageszeitung und die Geschäftstelefonate der Mitreisenden wiegen diese Differenz bei Weitem nicht auf.

Der Haken: So früh am Morgen kommt man in Heidelberg an keine Tageszeitung ran. Das ist aber eigentlich kein Problem. Denn 30 Minuten Umsteigezeit in Frankfurt am Main ließen genug Zeit, die Süddeutsche dort zu erwerben. Ein Selbstmörder durchkreuzt den Plan. Dreißig Minuten Verspätung sind schnell beisammen. Die Gleissperrung wird gerade noch rechtzeitig aufgehoben, um den Anschlusszug nach Hannover zu erreichen. Ohne Zeitung. In dieser Lage fühlt sich unsere Bahngeschichtenerzähler moralisch berechtigt, sich am Zeitungsangebot der ersten Klasse zu bedienen. Dummerweise wird ein Schaffner Zeuge, der kurz darauf die Fahrscheine im Speisewagen kontrolliert. Nach dem üblichen Procedere mit Einscannen des Codes und Vorzeigen der Bahncard entspinnt sich ein Dialog.

Zugbegleiter: „Darf ich jetzt bitte noch Ihren Fahrschein erster Klasse sehen?“

Bahngeschichtenerzähler (B) stellt sich doof: „Wieso?“

Zugbegleiter: „Das Zeitungsangebot ist ein Exklusivangebot für Reisende der ersten Klasse und Sie haben sich doch gerade eine genommen.“

Na gut, denke ich. Er hat mich ertappt. Aber so blöd muss er mir doch nicht kommen.

B: „Das weiß ich. Aber durch unsere Verspätung konnte ich keine Zeitung am Bahnhof kaufen, so wie ich es vorhatte.“

Diese Story glaubt er mir nicht. Ich solle die Zeitung zurückbringen. Da ich mich dank der plumpen Gesprächseröffnung nun aber endgültig moralisch überlegen fühle, kommt das nicht infrage. Ich lege die Zeitung zusammen und schiebe sie ihm hin.

Z (erbost): „Soll ich die etwa zurückbringen?“.

B: „Genau.“

Der Zugbegleiter geht kopfschüttelnd ab. Er kommt noch ein paar mal vorbei. Wir würdigen uns keines Blickes. Die gefaltete Zeitung bleibt bis Hannover unberührt liegen.