Das Gift des Kriegsgeschreis

Die Rede vom „Krieg gegen den Terror“ lenkt das Denken in eine grässliche Sackgasse. Das war nach dem Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers so. Und es geschieht nach den Terroranschlägen von Paris erneut. Gedanken, ausgelöst durch eine E-Mail aus dem September 2001.

Meine Frau grub über den Jahreswechsel in alten Erinnerungen. Sie fand eine E-Mail vom 13. September 2001. Darin fragte sie: „Sind wir jetzt im Krieg?“ Zwei Tage waren seit der Terrorattacke auf das World Trade Center vergangen, dreitausend Menschen tot. US-Präsident George W. Bush hatte bereits seinen Krieg gegen den Terror ausgerufen, Bundeskanzler Gerhard Schröder dem US-amerikanischen Volk die uneingeschränkte Solidarität der Deutschen erklärt. Ich schrieb eine beruhigende Antwort. Krieg fände zwischen Staaten statt. Davon seien wir weit entfernt. Terroristen ließen sich nicht mit Panzern oder Kampfflugzeugen bekämpfen, vielmehr sei es Sache von Polizei, Geheimdiensten, Anklagebehörden und Gerichten, Terrorgruppen entgegenzutreten, die die freie Welt bedrohten. Ich habe mich damals sehr geirrt. Und ich hatte vollkommen recht.

Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Das Reden in Begriffen des Krieges vergiftete das Denken der Politiker. Die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Verbündeten begannen tatsächlich, Krieg zu führen. Dabei warfen sie elementare Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft ebenso über Bord wie die Menschenrechte und die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates.

Es war völlig vergeblich. Die Bilanz ist verheerend:

  • Die US-Regierung ließ Terroristen und Menschen, die sie für Terroristen hielt, fangen, foltern und einsperren. Ohne Anklage und Prozess. Bis heute. Seither verbitten sich autokratische Herrscher jeder Färbung frech jede westliche Einmischung. Im Lager Guantanamo sitzen noch immer über 100 Gefangene.
  • Friedensnobelpreisträger Barack Obama lässt einen Drohnenkrieg führen. Ferngesteuerte bewaffnete Flugobjekte töten Terrorverdächtige aus der Luft – oder solche, die (teils dubiose) Geheimdienste dafür halten. Die Zahl der Toten in Afghanistan und Pakistan, wo die meisten Drohnenangriffe stattfinden, ist unklar. Klar ist, dass Millionen Menschen im Schatten des Todes leben müssen und Hunderte, wenn nicht Tausende Unbeteiligter starben. Und sterben. Mit jedem toten Kind, jeder toten Frau und jedem ohne Prozess getöten Terroristen tötet der Westen auch seine Werte. Genährt wird nur der Hass.
  • Die gewaltigen Militäraktionen des Westens im Irak und in Afghanistan haben Milliarden Dollar verschlungen und Zehntausende Leben gekostet. Erreicht haben sie nichts. Die Welt ist nicht sicherer, der Terror nicht schwächer. Stattdessen gibt es im Nahen und Mittleren Osten drei zerfallende Staaten, Syrien muss man mitzählen, in denen der Krieg aller gegen alle gut gedeiht.

Ich hatte also recht: Der Krieg gegen den Terror funktioniert nicht. Und ich habe mich geirrt: Er wird dennoch geführt. Hätten nüchternere Staatenlenker, als George W. Bush einer war, die Rede vom Krieg vermieden? Hätte die Geschichte einen anderen Pfad genommen, wenn sich die freie Welt zur entschlossenen Verteidigung ihrer Werte bekannt hätte? Dann wäre womöglich die Selbstermächtigung unterblieben, ohne Skrupel Unschuldige zu opfern, den Rechtsstaat und die eigenen Werte mit Füßen zu treten.

Wut und Trauer machen blind. Wir lernen nichts. Der französische Präsident Francois Hollande hat nach den Anschlägen von Paris im November 2015 dem Terrorismus den Krieg erklärt, wie Bush es 2001 tat. Die französische Luftwaffe wirft Bomben auf Syrien. Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Die Geschichte wiederholt sich. Erst als Tragödie, dann als Farce.*

 

*Im Original ein Zitat von Karl Marx: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Berlin 1972, S. 115. Online hier.

 

Das Gift der Symbolik

Islamisten und Islamkritiker sind sich ähnlich. Beide bedienen sich im Werkzeugkasten der Symbole, um sich ihre je eigene Welt zu erschaffen. Der Philosoph Ernst Cassirer hat die Mechanismen in seinem Werk beschrieben.

Der Mensch ist ein symbolisches Tier. Wir können uns Dinge vorstellen, die es gar nicht gibt. Durch den gemeinschaftlichen Glauben werden sie dennoch wirklich. Weil wir alle fest an den Wert von bunt bedrucktem Papier glauben, können wir damit Häuser, Autos oder Arbeitskraft kaufen. Geld, Menschenrechte, Religion existieren erst durch unsere Vorstellungskraft. Wir konstruieren und strukturieren unsere Welt durch Ausgedachtes.

Die islamistischen Mörder von Paris, die Terroristen des Islamischen Staats in Syrien und im Irak und die Dresdner Montagsdemonstranten von der Pegida sind sich darin ganz nah. Alle haben sich ein Zerrbild des Islam geschaffen, aus dem sie ihre Selbstermächtigung schöpfen. Die Überzeugung von der Berechtigung des eigenen Tuns ist so stark, dass sie ausreicht, um ein Dutzend Menschen dafür zu ermorden, dass sie sich über einen Religionsstifter lustig machen. Sie ist so stark, unter der Flagge des Glaubens tausende Frauen zu versklaven und zu vergewaltigen. Sie ist stark genug, gegen die angebliche „Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße zu gehen und ein allgemeines Unbehagen am Zustand der deutschen Gesellschaft zu artikulieren, das mit Fakten wenig zu tun hat. Alle haben sich einen Popanz gebaut. Die Psychologie hat längst erkannt, dass es mit der menschlichen Vernunft nicht so weit her ist, wie wir gerne meinen. Wir halten selbst dann an unseren Überzeugungen fest, wenn sie durch Fakten widerlegt wurden. Deswegen sind die Versuche der Medien und der etablierten politischen Parteien rührend, aber ganz vergeblich, Pegida-Anhänger mit Tatsachen zu begegnen. Ob in Deutschland fünf Prozent oder irgendwann sieben Prozent der Bewohner Muslime sind und es in Dresden kaum Ausländer gibt, ist für die Demonstranten und ihre Furcht vor einer „Islamisierung“ der Bundesrepublik offenkundig ohne Belang.

Stattdessen könnte es sich lohnen, Cassirer zu lesen. Der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Cassirer (1874 bis 1945) hat sich damit beschäftigt, wie Menschen in gesellschaftlichen Krisen reagieren. Im Jahr 1933 konnte Cassirer aus Deutschland entkommen. Aus dem britischen und später US-amerikanischen Exil beobachtete er Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus. Was er sah, hat er in seinem letzten Werk „Vom Mythus des Staates“ festgehalten. Demnach komme es in gesellschaftlichen Krisen zu einer Verunsicherung der Vernunft. Die Menschen bedienen sich dann im Werkzeugkasten von Religion, Mythos und Stereotypen, um sich ein neues Weltbild zu bauen. „In verzweifelten Lagen will der Mensch immer Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen – und die politischen Mythen unserer Tage [= der Weimarer Republik, F.S.] sind solche verzweifelte Mittel gewesen“, schreibt Cassirer.

Namentlich die Dolchstoßlegende von der vermeidbaren Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die angebliche jüdische Weltverschwörung gehören zu diesen Mythen. „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher.“ Politische Mythen bilden sich aber nicht einfach so. Sie sind Cassirer zufolge „künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt.“

Es bedurfte einiger Jahre und einer Menge an propagandistischem Geschick, die Juden zu Sündenböcken zu machen, aus der Gesellschaft auszustoßen und ihre millionenfache Ermordung vorzubereiten. Das Ergebnis ist bekannt. Dabei setzte der Nationalsozialismus nicht nur „eine Umwertung aller unserer ethischen Werte, sondern auch eine Umformung der menschlichen Sprache“ ins Werk, sagt Cassirer. Ganz unwillkürlich denkt man an die Pegida-Demonstranten und ihren Ruf von der „Lügenpresse“. Hier haben sich Menschen ein Feindbild gebaut, das ihr Weltbild stabilisiert. Was den Nazis die Juden waren, sind den Pegida-Demonstranten die Muslime. Und gegen die bürgerliche Presse polemisieren beide.

Cassirers Fazit fällt 1945 pessimistisch aus: „In der Politik haben wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. [..] Wir sind immer vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos bedroht. Wir bauen hohe und stolze Gebäude; aber wir vergessen, ihre Fundamente sicher zu machen.“ Die Antwort der US-amerikanischen Regierung auf den Anschlag des 11. September 2001 bestätigt die pessimistische Diagnose Cassirers. Die erfolgreiche Attacke auf New Yorks strahlende Zwillingstürme war nicht nur eine Tat von abscheulicher Brutalität und Grausamkeit. Sie strahlte auch eine ungeheure symbolische Gewalt aus. Die Regierung unter George W. Bush ließ sich zu einer ebenso starken symbolischen Antwort hinreißen. In der Folge des „Kriegs gegen den Terror“ entstanden geheime Foltergefängnisse. Terrorverdächtige wurde ohne Aussicht auf einen rechtsstaatlichen Prozess verschleppt und sitzen teilweise bis heute fest. Unbeteiligte und Unschuldige starben und sterben durch amerikanische Drohnen.

Die USA warfen konstituierende Werte eines jeden demokratischen Rechtsstaates über Bord. Darin mag der wahre Triumph der Terroristen liegen: Wir wurden wie sie. Wir teilten die Welt in Schwarz und Weiß, in uns und die. Pegida tut es. Die Islamisten tun es. Die Leute, die ihre Art der Vergeltung für die Morde in Paris üben und Moscheen beschmieren und Musliminnen bespucken, tun es. Wir anderen aber – wir sollten es nicht tun. Wie schwer das angesichts der Gewalt der Bilder sein kann, davon weiß Ernst Cassirer zu berichten.