Die Nüchternheit im Angesicht des Todes

Sie fehlt. Die Debatte um Sterbehilfe krankt an einem Übermaß an Emotionalität. Die Bundestagsdebatte am 13. November 2014 zeigt das klar. Der Sache tut das nicht gut. Sterbehilfevereine sind ein Preis der Freiheit. Ein Kommentar.

„Sternstunde des Parlaments“, „große Ernsthaftigkeit“ – die Berichterstattung ist nicht frei von Pathos. Die Bundestagsabgeordneten diskutieren in einer so genannten Orientierungsdebatte ohne Fraktionszwang. Sie wollen bis zum Frühjahr 2015 ein Gesetz zur Sterbehilfe vorbereiten.

Eine stabile Dreiviertelmehrheit der Deutschen wünscht sich, im Fall von Krankheit und Leid im Alter selbst über den eigenen Tod zu bestimmen. Wer noch die Kraft hat und sich selbst das Leben nimmt, der macht von seiner Freiheit Gebrauch. Er ist zwar in den Augen der Kirchen ein Sünder, aber kein Fall für das Strafgesetz. Wie auch. Er (die übergroße Mehrheit der Selbstmörder sind Männer) ist ja tot. Was aber ist zu tun, wenn ein Mensch auf Hilfe angewiesen wäre, sich das Leben zu nehmen? Darf er auf Hilfe hoffen? Die Debatte angesichts der letzten Fragen ist mit Gefühl aufgeladen. Gut tut ihr das nicht.

Kaum ein Abgeordneter ließ es an persönlicher Betroffenheit fehlen. Mit großer Eindringlichkeit schilderten Peter Hintze (CDU) und andere, wie sie Zeugen von Leid und Sterben im eigenen Familienkreis wurden. Alle argumentieren dabei mit der Menschenwürde, die zu schützen das höchste Gut sei, kommen aber zu völlig gegensätzlichen Positionen. Das ist auch kein Wunder.

Wer einen Grundkurs Philosophie besucht hat, der weiß, dass Verallgemeinerungen von Einzelfällen ihre logischen Tücken haben. Aus der Betrachtung des Einzelfalls lässt sich niemals eine allgemeine Regel begründen. Besser wäre es, ohne Bekundungen persönlicher Betroffenheit auszukommen und stattdessen einen Blick auf die Grundprinzipien zu werfen, mit denen wir unser Gemeinwesen organisieren.

Hier kommt die Menschenwürde ins Spiel. Alle berufen sich auf sie. Das Grundgesetz formuliert ihren Schutz als erste und wichtigste Aufgabe aller staatlichen Gewalt. „Würde“ ist aber ein deutungsbedürftiger Begriff. Sonst könnte ihre Anrufung nicht zu einander ausschließenden Positionen führen. Ich erlaube mir die bescheidene Meinung, dass die Autoren des Grundgesetzes den Artikel Eins unglücklich formuliert haben, indem sie einen abstrakten Begriff wählten. Er erlaubt es, Menschenwürde losgelöst von den einzelnen Menschen zu betrachten. Besser macht es die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.“ Hier knüpft die Verfassung die Grundrechte direkt und explizit an den Einzelnen.

Freiheit ist das Grundprinzip jeder freiheitlichen Ordnung. Sonst wäre sie ja nicht freiheitlich. Jeder erwachsene Bürger kann tun, was er mag. Grenzen seiner Freiheit setzt erst die Freiheit der anderen Bürger. Die Gesetze, staatlichen Institutionen, die Sozialversicherung, sie sind alle dazu da, diese Freiheit zu ermöglichen. Und da jeder, der seinem Leben ein Ende setzt, von seiner Freiheit Gebrauch macht, lässt sich ein Verbot der Sterbehilfe keinesfalls rechtfertigen. Das gilt, davon bin ich überzeugt, sowohl für passive wie aktive Sterbehilfe.

Paradoxerweise ist aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten. Kein Arzt darf einen Schwerkranken mit einer Giftspritze töten, selbst wenn dieser das unbedingt möchte. Einen Giftcocktail neben das Krankenbett zu stellen, das ist dagegen erlaubt. Mir erscheint die scharfe gesetzliche Trennung beider Situationen zutiefst willkürlich. Denn in beiden Fällen verwirklicht der kranke Mensch seine Freiheit.

Manche Menschen bedienen sich der Hilfe von Sterbehilfevereinen. In der Bundestagsdebatte zeichnete sich ein breiter Konsens ab, die gewerbliche Sterbehilfe zu verbieten. Dabei spielt sicher eine Rolle, dass manche selbsternannten Sterbehelfer wie der ehemalige Hamburger Senator Roger Kusch eine unangenehme Figur abgeben. „Niemand soll am Sterben anderer Geld verdienen.“ Dieser Impuls liegt nahe, er ist psychologisch verständlich. Dumm ist er dennoch. Denn was wären die Alternativen? Soll die Verantwortung bei den Ärzten liegen, Sterbehilfe gewissermaßen zur Kassenleistung werden?

Hierzu ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, ein Todkranker verlangt von seinem Hausarzt Hilfe beim Freitod. Der Arzt ist Katholik, der Wunsch bringt ihn in ein ethisches Dilemma. Sein Glaube verbietet den Selbstmord. Da die Sterbehilfe inzwischen aber von Staats wegen institutionalisiert ist, verpflichtet ihn das ärztliche Ethos (und ein Vertrag mit den Krankenkassen) darauf, seinen Patienten nicht abzuweisen. Wer einen Arzt nicht in diese oder eine ähnliche Zwangslage bringen möchte, der darf Sterbehilfe nicht entprivatisieren. Wir müssen es den Freiwilligen überlassen. Mit anderen Worten: Sterbehilfevereine sind ein notwendiges Übel. Sie sind der Preis der Freiheit. Wir sollten ihn zahlen.

Die ganz große Koalition der Bevormundung

Sollen Menschen Hilfe bekommen, die sterben wollen, aber sich nicht selbst töten können? Sollen sie vielleicht sogar einen Anspruch auf aktive Sterbehilfe haben? Kirchen, Prominente wie Franz Müntefering, Ärzteverbände und Parteien sagen Nein. Mich überzeugen die Argumente nicht. Ein Plädoyer für Autonomie und Freiheit am Lebensende.

Gegner aktiver Sterbehilfe führen typischerweise fünf Argumente für ihre Position an.

Argument 1: Menschen könnten sich gegen ihren Willen zum Sterben genötigt fühlen.

Müntefering und andere beschwören das Bild des alten Mütterchens herauf, das seinen Verwandten nicht länger zur Last fallen will und sich deshalb für den Freitod entschließt oder von diesen dazu gedrängt wird. Das Bild ist so eindrücklich, dass es leicht überdeckt, wie wackelig die Hypothese ist. Nötig wäre ein empirischer Beleg dafür, dass es das Mütterchen (und dessen ruchlose Verwandtschaft) überhaupt gibt. Dass die Zahl assistierter Freitode alter Menschen in Ländern wie den Niederlanden mit liberaler Sterbehilfepraxis nicht steigt, spricht dagegen.

Hinzu kommt, dass Autonomie und Freiheit des Einzelnen zu den wichtigsten Grundwerten unserer Gesellschaft gehören. Ein ganzes Erwachsenenleben lang treffen wir eigenverantwortlich Entscheidungen. Viele sind gut, andere dumm, manche für Dritte nicht nachvollziehbar. Wieso das am Lebensende und im Angesicht der letzten Fragen plötzlich anders sein soll, will mir nicht in den Kopf.

Wie wäre es, aktive Sterbehilfe zu gestatten, aber eine Beratungspflicht einzubauen? Das könnte die Sorge der Gegner lindern, dass sich jemand unter Zwang das Leben nehmen will. Die Regelung zur Abtreibung mit Fristenlösung und Schwangerenkonfliktberatung könnte als Vorbild dienen.

Argument 2: Die Palliativmedizin kann das Leid am Lebensende so weit lindern, dass Sterbehilfe nicht nötig ist.

Mag sein. Doch wäre es eine Bevormundung, die mit den Prinzipien unserer freiheitlichen Gesellschaft unvereinbar ist, Menschen das Recht auf den eigenen Tod zu verweigern. Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013) beschreibt in „Arbeit und Struktur“ sehr eindrücklich, wie befreiend für ihn das Wissen war, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen zu können.

Argument 3: Was, wenn der Todeswunsch einer Krankheit entspringt, die die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt?

Kranke müssen behandelt werden. Ansonsten gilt: Gesunde haben Aspruch auf Respekt vor ihren Entscheidungen.

Argument 4: Gott hat die Selbsttötung verboten. Also ist Sterbehilfe Sünde.

Deutschland ist im Prinzip ein laizistisches Land. Kirche und Staat sind getrennt (auch wenn das nicht überall sauber durchgehalten wird). Glaubensgemeinschaften dürfen Regeln für die eigenen Mitglieder erlassen. Sie haben aber keinen Anspruch darauf, andere zu bevormunden.

Argument 5: Es ist ein Unding, am Sterben anderer Menschen Geld zu verdienen.

Friedhofsgärtner, Steinmetze und Bestatter verdienen ihr Geld mit dem Tod. Das findet auch keiner anrüchig. Hinzu kommt: Ein Sterbehilfeverein gefährdet nicht die Jugend und beeinträchtigt Dritte nicht in ihrer Entfaltung. Es gibt aus meiner Sicht somit keine Gründe, die Gewerbefreiheit einzuschränken.

Argument 6: Auf A wie aktive Sterbehilfe folgt bald E wie Euthanasie.

Das ist kein Argument, sondern der Popanz eines Arguments. Das Argument rührt zwei Dinge zusammen, zwischen denen ein tiefer Graben liegt. Auf der einen Seite geht es um die Hilfe bei der Selbsttötung eines erwachsenen Menschen mit wachem Verstand, auf der anderen Seite um die Frage, ob der Staat oder irgendeine andere Instanz darüber bestimmen darf, Menschen zu töten, die sich selbst nicht artikulieren können. Zu behaupten, die meisten Menschen könnten nicht den Unterschied erkennen, beleidigt den Verstand.

Man kann Ersteres entschieden bejahen, und Letzteres ebenso entschieden ablehnen. So wie ich es tue.