Wiedersehen nach 15 Jahren

Jeder Doktorand kennt das Gefühl des Überdrusses, das sich bei der Spurensuche in feinsten Verästelungen eines Forschungsgebiets einstellt – und das Gefühl der Befreiung, wenn die Arbeit endlich getan ist. Im Jahr 1998 war ich dermaßen erleichtert (und bedient), dass ich nach Abgabe der Pflichtexemplare nie wieder in der Arbeit geblättert habe. Jetzt aber nehme ich die Doktorarbeit erneut zur Hand. Kann der junge Autor von damals vor seinem Alter Ego von heute bestehen? Eine Reise in vergangene Geisteswelten.

„Virtuelle Erfahrung“ – der Titel kann sich auch heute noch sehen lassen. Im Nachhinein findet der Rezensent von heute es ein wenig erstaunlich, dass der Autor damals mit einem beinahe feuilletonistischen Titel bei den Gutachtern durchgekommen ist. Immerhin zollt ein Untertitel den akademischen Gepflogenheiten in der Philosophischen Fakultät Tribut und umreißt den Forschungsgegenstand: „Eine Untersuchung über den Erkenntniswert von Gedankenexperimenten und Computersimulationen in den Naturwissenschaften“.

Das Inhaltsverzeichnis ist mit fünf Kapiteln und drei Gliederungsebenen angenehm übersichtlich. Die Titel der Unterkapitel sind von unterschiedlicher Güte. Nicht alle erklären sich aus sich heraus. Das würde ich heute anders machen. Auf eine Besonderheit deutet das Abbildungsverzeichnis hin. Die Arbeit enthält gleich zehn davon – in wissenschaftsphilosophischen Arbeiten war und ist das eher ungewöhnlich. Dem kundigen Leser fällt zudem auf, dass das Manuskript mit dem Buchsatzprogramm LaTeX erstellt wurde. Wer sich erinnert, welche Fummeleien der Einbau von Bilddateien nötig machte, wird den Bilderreichtum der Arbeit extra zu würdigen wissen.

„Die rasch fortschreitende Entwicklung der Computertechnologie in den vergangenen fünfzig Jahren hat auch die Naturwissenschaften nachhaltig beeinflusst.“ Wer hätte das gedacht? Ein Knaller ist der erste Satz der Arbeit nicht. Hoffentlich erhebt sich die Arbeit später über den damit angedeuteten Problemhorizont. Gut gefällt mir, dass bald (Seite 2 der Einleitung) die Forschungsfrage klar umrissen wird: „Wenn in Teilbereichen der Naturwissenschaften auf die Naturbeobachtung in Form von Experimenten ganz verzichtet wird und an die Stelle der Experimente Computersimulationen treten, dann stellt sich die wissenschaftsphilosophische Grundfrage nach dem Status der betroffenen Naturwissenschaften als empirischen Wissenschaften. Diese Frage lautet: „Wie ist Naturwissenschaft ohne Naturbeobachtung im Experiment möglich?“ Ihre Beantwortung steht noch aus.“

Es folgen fünf Seiten, die die Belesenheit des Autors und dessen Vertrautheit mit den aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskussionen demonstrieren. Dann wird es wieder interessant: „Der Wirklichkeitsbezug von Computersimulationen und ihre mögliche Rolle in den Naturwissenschaften ist wissenschaftsphilosophisch bisher kaum hinterfragt worden. Einen Anknüpfungspunkt für die Diskussion des Erkenntniswertes von Computersimulationen bietet allerdings die philosophische Debatte über Gedankenexperimente. Dort stellt sich die Frage, ob bzw. wie durch Denken allein Aussagen über die sinnlich erfahrbare und empirisch gegebene Wirklichkeit gewonnen werden können. Gedankenexperimente fügen der bestehenden empirischen Datenbasis kein neues Beobachtungsmaterial hinzu. Bereits bezüglich des Gedankenexperimentes muss also gefragt werden, ob der Wirklichkeitsbezug vorausgesetzt werden kann, ob er im Gedankenexperiment mit eigenen Mitteln hergestellt wird oder ob er vielleicht gar nicht besteht und die Aufgabe des Gedankenexperimentes im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess anders zu begreifen ist. Gleichlautende Fragen lassen sich für Simulationen stellen.“

Die Lektüre der Einleitung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits wird der Zugang zum Thema erfreulich klar dargelegt. Es gibt wenige philosophische Texte über Computersimulationen, aber es gibt Einiges über Gedankenexperimente. Lasst uns also gucken, was man in der älteren Debatte an möglichen Antworten für die neue Frage finden kann. Damit hat sich der Autor auf ziemlich clevere Weise eine Selbstermächtigung erteilt, die Philosophiegeschichte zu flöhen. Er tut das mit erkennbarer Freude daran, philosophische Klassiker wie Blaise Pascal in einen virtuellen Dialog mit zeitgenössischen Denkern wie Searle, Popper, Kripke zu zwingen. Andererseits irritieren Schwankungen in der Texthöhe. Zurückhaltende Argumente wechseln sich ab mit mutigen Wertungen.

Gerade manche Fußnoten erscheinen mir heute in ihren apodiktischen Urteilen arg präpotent. Dazu passt, dass der Autor im ganzen Text rund 20 mal „ich“ sagt. Ich (sic!) meine mich daran zu erinnern, dass der Autor mit dem Gebrauch des Personalpronomens eine bestimmte philosophische Absicht verfolgte. Wenn Philosophie im Wesentlichen als Austausch von Argumenten begriffen wird, dann gehört es zur intellektuellen Redlichkeit, Thesen und ihre Urheber klar zu benennen. Diese Haltung ist in der angelsächsischen Wissenschaftskultur verbreiteter als in der deutschen. Hierzulande gehört es zum guten Ton, als Wissenschaftler hinter sein Werk zurückzutreten und eine unpersönliche Form der Darstellung zu wählen. Dass sich der junge Doktorand damals bereits diesen Konventionen widersetzt hat, gefällt mir noch heute. Aber er ist ja später auch nicht Philosophieprofessor geworden, sondern Journalist und Wissenschaftsmanager.

Wie jeder typische akademische – also eilige – Leser bin ich inzwischen von der Einleitung zur Zusammenfassung gesprungen. Dazwischen habe ich kurz das Literaturverzeichnis gescannt. 152 zitierte Bücher und Aufsätze deuten auf hinreichenden Fleiß hin. Die kanonischen Werke sind allesamt vertreten. Aufsätze von Doktorvater und Zweitgutachter werden ebenfalls zitiert, auch wenn sie für die Fragestellung allenfalls am Rande wichtig waren. Der Autor weiß offenbar um die Gepflogenheiten der Zunft und um die Eitelkeit der Professoren.

Zurück zur Forschungsfrage: Was kann man durch reines Nachdenken über die empirische Welt lernen? Im Titel wurde (etwas) hochtrabend vom „Erkenntniswert“ gesprochen. Die Antwort lautet: „Ein Experiment mit Gedanken durchzuführen, bedeutet, Vorstellungen einer kontrollierten Variation zu unterwerfen. An Beispielen […] zeigt sich, dass diese Variation in bestimmten Fällen als ein deduktiver Vorgang aufgefasst werden kann, in dem der Inhalt synthetischer, empirisch gehaltvoller Prämissen expliziert wird. Als Prämissen, d. h. als Ausgangsbasis, von der das Experiment mit Gedanken seinen Ausgang nimmt, dienen Naturgesetze, Teile naturwissenschaftlicher Theorien oder andere Erfahrungssätze. Das Ergebnis der im Gedankenexperiment vollzogenen Explikation können Naturgesetze oder Erfahrungssätze sein, die vor der Durchführung des Gedankenexperimentes unbekannt waren. Da sich der empirische Gehalt der Prämissen auf die im Gedankenexperiment gezogene Schlussfolgerung überträgt, muss eine unabhängige empirische Überprüfung der Konklusion nicht erfolgen. In diesem Sinn kommt einem bestimmten Typus von Gedankenexperimenten […] eine eigenständige Leistung im Begründungszusammenhang naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu.“ Mit anderen Worten: Man kann durch reines Nachdenken nichts über die Natur lernen. Aber man kann durch Nachdenken über Theorien über die Natur Neues über diese Theorien lernen. Das finde ich eine noch immer ganz hübsche Einsicht.

Wer sich ein eigenes Bild machen möchte, kann die Arbeit hier als PDF herunterladen: Virtuelle Erfahrung.

An den Pranger

Selbstverpflichtungen für gute Wissenschaftskommunikation sind nutzlos. Es bedarf einer öffentlichen Beschwerdestelle.

Am selben Tag, als der Siggener Kreis seine Leitlinien für gute Wissenschaftskommunikation vorstellte, fielen fast alle deutschen Medien auf einen abgefeimten PR-Coup herein. Selbst Leitmedien wie der SPIEGEL oder das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sprangen auf eine zur Sensation aufgeblasene Pressemeldung einer britischen Provinzuniversität an. Erstmals habe ein Supercomputer den Turing-Test bestanden und wurde von Testpersonen in einem freien Frage-und-Antwort-Spiel für einen echten Menschen gehalten. Wenn das stimmte, wäre es fraglos ein Durchbruch in der Entwicklung künstlicher Intelligenz. Es stimmte aber nicht. Der Wissenschaftsjournalismus hat in Deutschland ein Qualitätsproblem.

Aufrufe zu Redlichkeit und Ehrlichkeit auf Seiten der Pressestellen werden das Problem nicht lösen. Eine Selbstverpflichtung bindet immer nur die Bekehrten, nie die Ruchlosen. Dem Journalismus selber fehlt inzwischen die Kraft. Nach den Sparrunden der letzten Jahre mangelt es in den Wissenschaftsredaktionen (und nicht nur dort!) an Zeit und Köpfen, um gegen die Übertreibungen übereifriger Hochschulen anzurecherchieren.

Hilfe könnte von außen kommen. Der Deutsche Presserat prangert journalistisches Versagen an. Er ist seit 1956 ein wichtiges Instrument der freiwilligen Selbstkontrolle, an das sich jeder Zeitungsleser und Mediennutzer wenden kann. Einen Presserat für die Wissenschaft schlagen die Akademien der Wissenschaften einem gestern (!) veröffentlichten Papier zufolge vor (Zur Gestaltung der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien, Juni 2014). Initiativen wie der stiftungsfinanzierte Mediendoktor (http://www.medien-doktor.de) machen gute und weniger gute Wissenschaftsberichterstattung sichtbar. Doch die Wirkung ist begrenzt. Beides sind nur punktuelle Eingriffe. Sie greifen erst, wenn das Kind schon im Brunnen liegt. Und sie richten sich gegen die Medien, nicht die Pressestellen. Wirksamer wäre eine Schwarze Liste für PR-Sünder. Ein Pranger? Ja, ein Pranger!

Die Erwartung: Pressestellen von Hochschulen, einzelne Wissenschaftler oder PR-Agenten werden disziplinierter arbeiten und sich vor Übertreibungen hüten, wenn sie für den schnellen publizistischen Erfolg einen dauerhaften Reputationsschaden befürchten müssen. Dazu bedarf es einer Institution, die ähnlich arbeitet wie der Presserat. Jeder Journalist kann sich an sie wenden, wenn er meint, Opfer einer bewussten Falschinformation zu sein. Die Beschwerde wird von einer unabhängigen Kommission geprüft und sanktioniert, bis hin zur öffentlichen Rüge. Noch ist das Zukunftsmusik. Aber es gibt in Deutschland einige Institutionen, die großes Interesse an einem unabhängigen und leistungsstarken Wissenschaftsjournalismus haben und sich dafür seit Jahren einsetzen. Darunter sind große Stiftungen und Dachorganisationen wie der Stifterverband, aber auch die großen Wissenschaftsorganisationen wie Max-Planck-Gesellschaft oder Deutsche Forschungsgemeinschaft. Mit deren Engagement könnte die Finanzierung eines PR-Rates für die Wissenschaft gelingen.

„Gute Wissenschaftskommunikation arbeitet faktentreu. Sie übertreibt nicht in der Darstellung der Forschungserfolge und verharmlost oder verschweigt ihr bekannte Risiken neuer Technologien nicht. Sie macht Grenzen ihrer Aussagen sichtbar. Außerdem sorgt sie für Transparenz der Interessen und finanzieller Abhängigkeiten. Sie benennt Quellen und Ansprechpartner. Sie beantwortet die Frage, welche Bedeutung die Informationen für Wissenschaft und Gesellschaft haben und ordnet sie in den aktuellen Forschungsstand ein. Sie weicht nicht für Zwecke des Institutionenmarketings oder der Imagebildung von Faktentreue und Transparenz ab.“ Diese Selbstverpflichtung aus dem Siggener Appell gewänne sehr an Überzeugungskraft, wenn sie Zähne bekommt.

Ein erster Kandidat für die Schwarze Liste wäre die Universität von Reading. Denn an dem Durchbruch bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz, den beispielsweise Spiegel online am 9. Juni vermeldete, war nichts dran („Der unheimlich menschliche Eugene Goostmann“). Der berühmte britische Mathematiker Alan Turing (1912 – 1954) hatte den Test 1951 ursprünglich vorgeschlagen, um das Problem der Definition Künstlicher Intelligenz zu umgehen. Statt sich mit dem Innenleben der Maschinen zu beschäftigen, schaut man sich ihre Interaktion mit Menschen an. Der Test gilt als bestanden, wenn es einem Computerprogramm gelingt, eine Testperson in einem freien Frage- und Antwort-Spiel davon zu überzeugen, ein Mensch zu sein. Aus dieser Idee hat sich ein Wettbewerb für Konversationsprogramme entwickelt, der jährlich in London ausgetragen wird. Dort nun hatte das Programm „Eugene“ recht erfolgreich abgeschnitten, aber keineswegs erfolgreicher als andere Programme in der Vergangenheit und unter Beugung der Regeln. So hielt nur ein Drittel der Testpersonen das Programm wirklich für einen Menschen. Zudem machte es den Testern weis, ein 13-jähriger ukrainischer Junge zu sein, um sprachliche Schwächen und Verständnisprobleme zu erklären. Der Turing-Test bleibt eine Herausforderung für Maschinen, so wie guten Journalismus zu machen eine Herausforderung bleibt – für Journalisten und für PR-Profis.

 

Der Siggener Kreis ist eine Gruppe von Wissenschaftsjournalisten, Kommunikationsverantwortlichen großer Wissenschaftsorganisationen, Unternehmen und Stiftungen. Er traf sich 2013 und 2014 auf Gut Siggen, dem Seminarzentrum der Alfred Toepfer Stiftung in Holstein. Der Autor war nicht dabei. Den Aufruf gibt es hier: http://www.wissenschaft-im-dialog.de/wissenschaftskommunikation/weiterentwicklung/siggener-aufruf.html.

Die ursprüngliche Pressemeldung der Universität Reading zum Turing-Test gibt es hier: http://www.reading.ac.uk/news-and-events/releases/PR583836.aspx.

Zu diesemText: Die erste Fassung stammt bereits vom 12. Juni 2014. Dann schlummerte er sechs Tage in der Mailbox eines ignoranten Redakteurs. Inzwischen hatten sich die Akademien zur Wissenschaftskomunikation zu Wort gemeldet. Und gleich Kritik auf sich gezogen. Da musste es jetzt schnell gehen. Hier eine Linkliste zu einigen Kommentaren:

Alexander Mäder, Stuttgarter Zeitung: Nicht auf diesem Niveau. 17.6.14

Markus Pössel, Scilogs: Akademien geben Empfehlungen für Wissenschaftskommunikation. 17.6.14

Henning Krause, Hemholtz-Gemeinschaft: Live-Blog von der Ergebnispräsentation der Akademienstudie, 17.6.14

Jens Rehländer, Volkswagen-Stiftung: Welche Wissenschaftskommunikation der Siggener Kreis will. 10.6.14