Bahngeschichten: Die Ödnis der Sprayer

Zwischen Essen und Heidelberg liegen 320 Bahnkilometer. Die Brückenpfeiler, Schalthäuschen, Lärmschutzwände entlang der Strecke bilden eine endlose Leinwand für Sprayer. Kaum ein Quadratmeter bleibt ungenutzt. Während drei Stunden Bahnfahrt ziehen Tausende Pieces, Tags, Throw-Ups vorbei. Wie wirkt das auf den Betrachter? Ein Selbstversuch.

Freitag, 15:01 Uhr. Der ICE rollt aus dem Essener Hauptbahnhof. Nach zwanzig Metern ist auf einen Schaltkasten das erste Tag gesprüht. Die Buchstaben sind so stark stilisiert, dass ich sie nicht lesen kann. Kurz darauf trägt eine Baracke die erste politische Parole: „9/11 was an inside job“. Das ist zwar idiotisch, aber der Ort ist originell. In Mülheim grüßen eine pinkfarbene Faust und andere Gemälde von Garagenrückwänden und grünen Tennisplatzplanen. Kurz darauf das erste „ACAB“. All Cops are Bastards. Soso. Dass alle Bullen Schweine seien, meinen auch Spraydosen in Düsseldorf und Mannheim. Eine erste Erkenntnis: Die bevorzugte Arbeitshöhe der Sprayer liegt zwischen 50 cm und zwei Metern über dem Boden. Manche Grafittikünstler haben Leitern benutzt und sind in die zweite Etage vorgedrungen.

Düsseldorf wird seinem Ruf als Stadt des Extravagenten und des Geldes gerecht. Kurz vor dem Hauptbahnhof fragt ein Schimpanse in Denkerpose „Was tun?“. Das ist ja ein richtiges Wandgemälde. Gleich daneben die gepinselte These: „Geld macht dumm“ mit ihrer Antithese „Armut auch“. Ich lese noch: „AKSE. AMEISE. SCREW!“ Keine Ahnung, was das bedeutet.

In Köln füllt sich der Zug mit den Wochenendpendlern. Ich habe keine Zeit für Gespräche, Auf der Rheinbrücke (die mit den Liebesschlössern, siehe  https://cafephilosophique.org/2012/03/06/bahngeschichten-die-liebesschlosser-von-koln/) sind sogar die schmalen Stahlträger besprayt: NOK, Kek, Dads, 2OL. Dann Klartext: Ficken! Meine zweite Erkenntnis: Die Sprayerszene ist zutiefst egalitär. Die Könner an der Dose malen kunstvolle und farbenfrohe Pieces an die Wand. Wer weniger kann, begnügt sich mit Tags, stilisierten Signaturen. Manche kompensieren Talent mit Fleiß. Was noch auffällt: Profis grundieren. Kurz vor dem Möbellager Rösrath sind einige gelungene großflächige Grafitti zu sehen.

An der Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Bonn-Siegburg und dem Frankfurter Flughafen sind noch ein paar Meter frischer Beton frei. Doch selbst mitten im Taunus haben Leute zur Spraydose gegriffen.

Dann kommt auch schon Mannheim. Umsteigen in die S-Bahn. Und ich habe die Grafittischau gründlich über. Jedes Piece will etwas Besonderes sein. Ein Haufen Menschen wollten ihre eigene, individuelle künstlerische Botschaft in die Welt senden. Doch die Farben- und Formensprache ist nicht sehr vielfältig. Das Gesamtergebnis ist unfassbar eintönig. Beim Massentourismus muss es sich ähnlich verhalten. Millionen Menschen hoffen auf das besondere Urlaubserlebnis. Doch dann treffen sich alle zum Kamelreiten vor den Pyramiden. Oder am Ballermann auf Mallorca.

Über diesen Grübeleien sind die letzten zwanzig Kilometer genommen. Der Zug rollt in den Heidelberg Hauptbahnhof ein. Ein letzter Grafittigruß: XL, Geist, Save. Das wäre was: Wenn der Geist noch zu retten wäre. Doch das muss bis morgen warten.

Frank Stäudner

Bahngeschichten: das hässliche Hinterteil der Städte

Deutschlands Städte zeigen dem Bahnreisenden ihre Rückansicht. Hübsch ist das Hinterteil der Städte nicht. Bevor der ICE langsam in den Bahnhof rollt, ziehen vor den Fenstern verfallene Industrieanlagen vorbei (Dortmund, Magdeburg, Duisburg). In Düsseldorf bieten sich die Insassinnen eines Bordells den Blicken feil. Hundert Meter weiter hängt die Wäsche seit zwei Wochen auf der Leine. Die Zahl der Grafittis geht in die Tausende. Manche sind aufwändig gestaltet wie der denkende Schimpanse in Düsseldorf. Andere sind einfach nur dämlich, wie die Behauptung, der Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 sei von westlichen Geheimdiensten eingefädelt worden: „9/11 was an inside job“ steht auf irgendeinem Dach.

Am kommenden Freitag geht die Fahrt von Essen nach Heidelberg. Am Samstag folgt an dieser Stelle ein Protokoll der Sprüharbeiten entlang der Strecke.

Frank Stäudner

Ein schöner Sonntag

Joachim Gauck wird gewählt, und der Bundespräsident zitiert Jorge Semprun

Was für ein schöner Sonntag: vier Stunden Bundespräsidentenwahl im Ersten und auf Phoenix gucken. Phoenix gewinnt. Die Kommentatoren sind super, da erfrischend uneitel. Und man kann endlich mal ungeschnitten erleben, wie Politik gemacht wird. Die ARD blendet bei den Regularien lieber weg, dabei ist die hibbelige Nervosität der beiden Protokollbeamten wirklich sehenswert, die Bundestagspräsident Norbert Lammert assistieren. Der große Bruder des kleinen Ereigniskanals hat lediglich die prominenteren Interviewgäste.

Dann ist Joachim Gauck gewählt. Und sein erster Satz seiner ersten kleinen Rede als Bundespräsident ist der Hammer. „Was für ein schöner Sonntag.“ Joachim Gauck zitiert Jorge Semprun. Chapeau, denke ich. Einen expliziten Bezug stellt Gauck dann aber zur ersten freien Volkskammerwahl her am Sonntag, den 18. März 1990. Auch von den Kommentatoren hat keiner die Anspielung auf den zweiten Band der Romantrilogie des spanischen Jahrhundertschriftstellers Semprun bemerkt, in der er seine Zeit als kommunistischer Widerstandskämpfer in der Haft im Konzentrationslager Buchenwald beschreibt.

Ich stelle mir vor, dass Gauck sich des Bezugs sehr wohl bewusst war und sich einen feinsinnigen Intellektuellenscherz erlaubt hat, indem er das Publikum den Zusammenhang selbst entdecken ließ.

Kommentatoren hatten ihm bekanntlich vor der Wahl vorgeworfen, er sei in seinen politischen und gesellschaftlichen Positionen zu eindimensional. Anderen Deutern des Politischen war aufgefallen, dass Gauck für den einen großen Umbruch der deutschen Nachkriegsgeschichte stehe, seine Gegenkandidatin Beate Klarsfeld dagegen für die Auseinandersetzung mit dem anderen und viel größeren Massenverbrechen stehe, das die Deutschen unter Anleitung Hitlers und seiner Partei begangen hatten. Mit der Reverenz an Jorge Semprun hat Gauck den vermeintlichen Gegensatz elegant aufgelöst. Was für ein schöner Sonntag.

Inzwischen haben die Qualitätsmedien ihre Qualität bewiesen. Der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und (Überraschung) dem Focus ist der Bezug zu Semprun heute aufgefallen. Was für ein schöner Montag.

Frank Stäudner

Deutschlands Asylunrecht

Gedanken zum Freitod von Mohammad Rahsepar

Die Krone des deutschen Grundgesetzes war bis zum Winter 1992 der Artikel 16: „Politisch Verfolge genießen Asylrecht.“ Dann aber verständigten sich die Parteien Union, SPD und FDP auf einen Asylkompromiss, der in 274 auf den alten Satz folgenden Wörtern das Grundrecht stark einschränkte. Wer aus einem sog. sicheren Drittstaat einreiste, konnte sich fortan nicht mehr auf das Grundrecht berufen. Da alle Nachbarländer Deutschlands als sicher gelten, war eigentlich nur noch eine Flucht mit dem Flugzeug möglich. Mit dem Asylkompromiss wurde außerdem die besonders schäbige Behandlung der Flüchtlinge abgesegnet. Asylbewerber mussten und müssen in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, dürfen nicht arbeiten und erhalten deutlich geringere Sozialleistungen als deutsche Staatsbürger.

Asylbewerber standen im Verdacht (der vielfach auch zutraf), verkappte Wohlstandsflüchtlinge zu sein, die sich mangels anderer Möglichkeiten (wie etwa ein Einwanderungsgesetz) als politisch Verfolgte ausgaben. Inzwischen ist das anders. Längst hat sogar die CSU akzeptiert, dass Deutschland Einwanderer braucht. Das Zuwanderungsgesetz von 2004 hat neue Wege geschaffen, um in Deutschland zu leben und zu arbeiten, ohne sich als politischer Flüchtling ausgeben zu müssen.

Die Grundgesetzänderung von 1992 jedoch hat weiter Bestand. Und man muss sie erfolgreich nennen. Die Zahl der Asylbewerber sank stark. Das Thema ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Vor wenigen Tagen wurde ich in Berlin in trauriger Weise daran erinnert. Abseits der belebten Friedrichstraße in Berlin erinnerte eine kleine Gruppe von Demonstranten an Mohammad Rahsepar. Der iranische Flüchtling hatte sich am 29. Januar in Würzburg das Leben genommen – aus Verzweiflung über ein Leben, das nur aus Warten bestand, wie in einem begleitenden Flugblatt zu lesen war.

Eine Forderung der Demonstranten ist mir in Erinnerung geblieben. Asylbewerber sollten sich selber eine Wohnung suchen dürfen und nicht länger zwangsweise einem Landkreis zugewiesen werden, den sie dann noch nicht einmal verlassen dürfen. Recht so. Es ist allerhöchste Zeit, dem deutschen Ausländerrecht ein wenig Menschlichkeit zurückzugeben. Wir nehmen Asylbewerbern ich Würde, wenn der Staat sie in alte Kasernen im Nirgendwo pfercht. Mehr noch: Wir nehmen uns selbst unsere Würde, indem wir es tun. Es ist höchste Zeit, den alten Artikel 16 ohne Wenn und Aber und Einschränkungen wieder in Kraft zu setzen. Damit wir Bürger dieses Landes stolz über Deutschland sagen können: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

Bahngeschichten: Die Liebesschlösser von Köln

Wer oft mit dem Zug aus dem Ruhrgebiet nach Nordbaden fährt, macht seit einiger Zeit in Köln eine spannende Beobachtung. Auf der Hohenzollernbrücke über den Rhein ist ein harter Überbietungswettbewerb im Gange. Tausende Liebesschlösser verzieren das Brückengeländer, mehrheitlich auf der Brückensüdseite. Zunehmend verdrängen übergroße Liebesbekenntnisse die handelsüblichen Vorhängeschlösser. Schwere Fahrradketten sind in Herzform in das Geländer geflochten. Selbstgeschweißte Riesenschlösser in Schuhkartongröße konkurrieren mit herzförmigen Metallplatten, auf denen sich „I und U“ ewige Liebe schwören. Noch wurde kein Bauwagen angekettet. Spätestens dann müsste das Kölner Ordnungsamt einschreiten. Der neue Trend zur Größe und Extravaganz ist symbolisch jedenfalls ziemlich interessant.

Der Brauch ist erst wenige Jahrzehnte alt. Nach Mehrheitsmeinung der Experten wurde er durch einen Roman des italienischen Bestsellerautors Federico Moccia bekannt (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Liebesschloss). Seither mehren sich die öffentlichen Orte, an denen Liebespaare ein Schloss anschließen und als Zeichen ihrer unverbrüchlichen Liebe und Treue den Schlüssel wegwerfen – gerne in einen Brunnen oder Fluss. Man kann das romantisch oder kitschig finden. Der Kölner Brücke verleihen die Schlösser jedenfalls eine ganz eigene faszinierende Aura. Hier haben viele Menschen Dasselbe getan und dadurch etwas Besonderes geschaffen.

Aber nun passiert etwas Eigenartiges. Manche Paare wollen sich von der Masse abheben. Zwar wollen auch sie vom besonderen Nimbus des Ortes profitieren, der ein Werk der Vielen ist. An den anderen Kölner Brücken sind bisher allenfalls vereinzelte Schlösser aufgetaucht. Auf den ersten Blick haben die Paare die Symbolik auf ihrer Seite: je größer das Schloss, desto größer die Liebe, die es verkörpert.

Man könnte sich aber auch fragen, warum I und U ihre Liebe so raumgreifend öffentlich bekräftigen müssen. Trauen die beiden ihren Gefühlen etwa nicht so ganz? Ist das äußere Bekenntnis deshalb so groß ausgefallen, weil es den kleinen Gefühlen im Innern beider Herzen Halt geben muss?

Ich frage mich außerdem, welchen Sinn das öffentliche Bekenntnis der Liebe überhaupt haben soll. Es mag als Ankerpunkt der Erinnerung dienen, wenn Jahre und Jahrzehnte später die (sich dann hoffentlich immer noch) Liebenden an den Ort zurückkehren. Den Passanten auf der Brücke aber bedeutet das Bekenntnis von I und U nichts. Das Gesamtwerk hingegen hat das Zeug zur Touristenattraktion.

Frank Stäudner

In den Bahngeschichten berichtet der Autor in loser Folge von seinen Reiseerlebnissen in den Zügen der Deutschen Bahn.