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Über staudner

Physiker, Wissenschaftsphilosoph und Hochschulexperte. Machte 15 Jahren Wissenschaftskommunikation in leitender Funktion. Jetzt Professor an einer privaten Hochschule. Hobbies: Philosophie, Radsport. 1996 als Gründer des ersten deutschen Online-Philosophiemagazins Tabula rasa noch vorne dabei in der Webwelt, heute längst ein Computerdinosaurier.

„Füße spüren!“

Wir lernen viel zu kopflastig. Das fängt schon in der Schule an. Da sitzen die Kinder brav in ihren Bänken und schreiben mit, was der Lehrer an die Tafel malt. Dass es auch anders (und besser) geht, wissen die meisten Leute nicht. Die europäische Kultur zeichnet sich durch die übergroße Wertschätzung der Kopfarbeit aus. Dadurch geraten wichtige Facetten des Lernens aus dem Blick. Das müsste nicht sein.

Vielleicht ist die Aufklärung daran schuld, dass Denker angesehener sind als Tänzer. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. … Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Das schrieb Immanuel Kant 1784. Mit seiner Betonung der Verstandestätigkeit befindet sich der große Philosoph in bester Gesellschaft. Schon immer galt in der abendländischen Kultur das Denken mehr als das Tun. Die alten Griechen gaben der episteme (dem abstrakten Denken) klar den Vorzug gegenüber dem Handwerk (techne). Die Ingenieure waren in den Augen der tonangebenden Geisteswissenschaftler mehr Handwerker als Wissenschaftler und mussten vom 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. um ihren anerkannten Platz in der akademischen Welt ringen. Der Bildungskanon des Bürgertums besteht zum überwiegenden Teil aus Büchern. Den Profisportlern der Gegenwart huldigen wir, beneiden sie vielleicht sogar um Glamour und Geld. Aber intellektuell für voll nehmen wir sie nicht.

Kurzum: Die Überhöhung der Kopfarbeit hat Tradition. Beim Lernen wird das zum Problem. Denn neue Erkenntnisse der Hirn- und Lehr-/Lernforschung zeigen deutlich: Lernen hat eine kognitive, emotionale und körperliche Komponente. Gute Weiterbildungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Lerninhalte ganzheitlich erfahrbar und erlebbar machen. Dadurch eröffnen sich den Teilnehmenden Erfahrungsräume, die weit über das rein kognitive Lernen hinaus gehen. Wer seinen ganzen Körper in Lernprozessen einsetzt, erreicht eine tiefere Reflexionsebene. Das muss man allerdings erleben, um es zu glauben.

Nur ein Beispiel: Wer vor Vorträgen und Auftritten Lampenfieber hat, dem hilft es meist wenig, seinen Text wieder und wieder durchzugehen. Besser ließe sich die Nervosität dämpfen durch die gezielte Konzentration auf den eigenen Körper und den Blick nach innen. „Spüren Sie ihre Füße“ lautet ein neuer Wahlspruch der Weiterbildung. In manchen Ohren mag das wie esoterischer Klimbim klingen. Doch wir meinen: Es ist an der Zeit, dem Körper zu seinem Recht zu verhelfen.

Fadja Ehlail / Frank Stäudner

Fadja Ehlail arbeitet als Lehrtrainerin für die Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie bildet dort u.a. interkulturelle Trainer aus und bietet Trainings an zu Hochschuldidaktik, Präsentation, Kommunikation und Diversität / Interkulturelle Kompetenz.

Frank Stäudner betreibt nicht nur diesen Blog. Er führt im Brotberuf die Geschäfte der Akademie.

Mehr über die Gestaltung von Lernprozessen, ganzheitliches Lernen, Weiterbildungen, Coaching, Organisationsentwicklung etc. auf den Seiten der Akademie unter www.ph-akademie.de.

Vom Trost der Zyklen

Sind wiederkehrende Prozesse einfach ein Teil der Welt? Oder erfinden wir Menschen Zyklen, um Ordnung und Orientierung im Leben zu schaffen? Darüber diskutierten am Sonntag, den 6.1.2013 im Essener Cafe philosophique rund 30 Leute, die Vergnügen am philosophischen Gedankenaustausch haben. Der Autor durfte das Gespräch moderieren.

Eine abschließende Antwort wäre ebenso unmöglich wie unphilosophisch. So entschlossen wie Friedrich Nietzsche von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ wollte ohnehin niemand reden. Man könnte zudem mit Plato ernsthafte Einwände dagegen erheben, ein philosophisches Gespräch aufzuschreiben (und damit implizit so zu tun, als sei die Diskussion entschieden). Als kleinen Service gibt es hier aber immerhin die weiteren Termine der ersten Jahreshälfte 2013. Immer sonntags, 11 – 13 Uhr, Kulturforum Essen-Steele, Dreiringstraße 7:

20.1.13

3.2.13

17.2.13

3.3.13

17.3.13

14.4.13

28.4.13

12.5.13

26.5.13

9.6.13

23.6.13

7.7.13

Seit über zehn Jahren bringen philosophisch interessierte Menschen aktuelle oder grundsätzliche Themenvorschläge ein, über die ein Moderator abstimmen lässt, um anschließend das ausgewählte Problem bei Kaffee (selten bei Wein) mit den Teilnehmenden zu diskutieren. Philosophische Fachkenntnisse sind nicht erforderlich. Weder schaden noch nutzen sie. Nur die philosophische Grundhaltung schlechthin – Lust am Austausch von Argumenten, Neugier und die Aufgeschlossenheit, auch das scheinbar Gewisse infrage zu stellen – sollten die Teilnehmer mitbringen. Der Eintritt ist frei.

Die Moderatoren sind Dr. Peter Findeisen, Johannes Krieger, Dr. Anselm Vogt und sporadisch der Autor (Dr. Frank Stäudner).

Mehr Informationen auf den Seiten der Volkshochschule Essen gibt es hier.

Zeitvergeudung

Jedes Jahr verschwenden wir Deutsche Millionen Stunden kostbarer Lebenszeit in unproduktiven Besprechungen und auf langweiligen Kongressen. Das müsste nicht sein, wenn elementare Prinzipien der Erwachsenenbildung beachtet würden. Ein Aufschrei.

Kennen Sie das? An das Ende jeder ordentlichen Fachtagung hat der Veranstalter eine Podiumsdiskussion gesetzt. Sieben ältere Herren und ein Moderator sollen die Themen des Tages bündeln. Der Diskussionsleiter ist ein Laie, aber er hat beim Veranstalter einen wichtigen Posten und noch nichts zur Konferenz beigetragen. Die Diskussionsteilnehmer sind nach Proporz ausgewählt. Mindestens vier Plätze gehören den Repräsentanten befreundeter Verbände oder den Unterstützern der Tagung.

Dann geht’s los. Jeder Podiumsgast bekommt reihum das Wort für ein „kurzes Impulsreferat“. Zehn Minuten sind dafür ein guter Richtwert. Bald ist mehr als eine Stunde verstrichen, und der Moderator kann die Runde für „Fragen aus dem Publikum“ öffnen. Dass die Podiumsteilnehmer gar nicht diskutiert haben, registrieren die erschöpften Zuhörer dankbar. Der Veranstalter hatte ohnehin keine Leute mit abweichenden Meinungen eingeladen. Nach kurzem Zögern erheben sich die drei zähesten Gäste, um ihre Koreferate abzugeben. Dann sind neunzig Minuten um, der Moderator dankt allen Beteiligten für die „ergiebige und anregende Diskussion“ und bittet zum Empfang.

Wer die Skizze für Satire hält, dem sei entgegnet: Die schlimme Wirklichkeit ist allenfalls behutsam zur Kenntlichkeit entstellt. Falls Sie diese Zeilen nicht mitten in der Nacht, an Ostern, Silvester oder Weihnachten lesen, dämmern irgendwo in Deutschland in diesem Moment gelangweilte Zuhörer weg. Vorzugsweise in Berlin, dem neuen Tagungsmekka. Vielleicht sitzen Sie selber gerade in einer öden Veranstaltung und verschaffen sich heimlich Abwechslung.

Die drei Treiber der Langeweile sind schnell benannt: Es sind Angst, Faulheit und Ignoranz.

Viele Gastgeber, Moderatoren und Redner haben Angst. Es ist die Angst vor dem Verlust der Kontrolle. Denn wenn die Teilnehmer mehr Raum bekämen, um sich einzubringen, könnten unvorhergesehene Dinge passieren. Sie könnten Fragen aufwerfen, auf die noch niemand eine Antwort hat. Sie könnten Streit anfangen. Oder Sie könnten kreative Impulse geben und originelle Ideen haben, die den Gastgeber überraschen. Doch diese Blöße geben sich die Experten ungern. Lieber sperren sie sich und alle anderen in ein enges Zeitkorsett.

Die beiden anderen Treiber gibt es im Doppelpack. Faulheit und Ignoranz verbünden sich gern. Bequeme Redner spulen ihr vorbereitetes Programm ab und lesen ihren jüngsten Fachaufsatz vor (Faulheit), ohne einen Gedanken an die Erwartungen, das Vorwissen und die Wünsche des Publikums verschwendet zu haben (Ignoranz). Ignorant sind auch die Veranstalter, die ihre Podien nach Institutionenproporz besetzen statt danach zu fragen, wer zum Thema etwas Interessantes beizutragen hätte und welche Stimme im Meinungsspektrum noch fehlte.

Erstaunlich groß ist die Leidensfähigkeit des Publikums. Man kennt es eben nicht anders. Dabei gäbe es ganz einfache Methoden und Prinzipien, um Tagungen abwechslungs- und ergebnisreich zu gestalten. Gute Weiterbildungsanbieter wenden sie seit Jahrzehnten an.

Erwachsene lernen nur, was sie lernen wollen. Und unmotivierte Erwachsene lernen gar nichts. Wissen bleibt erst haften, wenn es sich die Lernenden selbst erarbeiten. Nach spätestens zwanzig Minuten des Zuhören-Müssens ist die Aufmerksamkeitsspanne ausgeschöpft. Die Motivation nimmt Schaden, wenn Teilnehmer sich als fremdbestimmt, ausgegrenzt oder überfordert erleben. Man traut sich kaum, es hinzuschreiben, so selbstverständlich klingt es.

Weiterbildungsprofis beherzigen das. Sie gestalten ihre Trainings abwechslungsreich. Manche Methoden (Kugellager, Blitzlicht, Aquarium, Stand-up,…) mögen auf den powerpoint-gestählten Büromenschen exotisch wirken. Aber sie wirken. Viele der Methoden ließen sich auch in Konferenzen gut anwenden. Der Dozent könnte aus der Rolle fallen und das Auditorium in Kleingruppen diskutieren lassen. Eine Fishbowl- oder Aquariumdiskussion könnte das geschlossene Format der Podiumsdiskussion demokratisieren. Eine aktivierende Körperübung vertriebe die Mittagsmüdigkeit. Und wer Besprechungen künftig im Stehen abhält, wird nie mehr über ausufernde Meetings klagen müssen.

Der Autor hat selber schon viel Lebenszeit vergeudet in unergiebigen Konferenzen und ausufernden Sitzungen. Und er hat die Lebenszeit Anderer verschwendet, weil er als Dozent zu faul oder zu ängstlich war, um sich gut vorbereitet auf die Teilnehmer einzulassen und deren Erwartungen und Wünsche zu erfragen und zu erfüllen. Doch damit ist jetzt Schluss.

Frank Stäudner

Der Autor ist studierter Physiker und promovierter Wissenschaftsphilosoph. Als PR-Profi, Kommunikations- und Lobbyingexperte arbeitete er viele Jahre in leitenden Funktionen von Verbänden. Seit Juli 2012 ist er in der Geschäftsleitung der Akademie für wissenschaftliche Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg tätig. Eine Sammlung bewährter Trainingsmethoden gibt es hier: Lernen im Aufwind
- Methodenreader zur Gestaltung von Lernprozessen,
Veronika Strittmatter-Haubold, Fadja Ehlail, Heidelberg 2012 (mehr Info).

Ist Schwarz + Weiß = Schwarz?

Warum die Formulierung „erster schwarzer US-Präsident“ versteckt rassistisch ist.

Barack Obama sei der erste schwarze US-Präsident. Das war nach seiner Wahl 2008 oft zu lesen. Jetzt ist es wieder so. Die Internetrecherche liefert 550.000 Fundstellen. Darunter befinden sich bekannte Nachrichtenmagazine wie der Focus (siehe hier) oder angesehene Tageszeitungen wie die Süddeutsche (siehe hier).

Meiner bescheidenen Meinung zufolge ist die Formulierung „erster schwarzer US-Präsident“ im besten Fall gedankenlos, im schlimmsten Fall rassistisch. Denn Obama ist bekanntlich der Sohn einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters. Es mag mit alten Apartheidregeln im Einklang stehen, bei dieser Abstammung das Kind zum Schwarzen zu erklären. Ich verstehe allerdings nicht, wieso liberale Kolumnisten und Redakteure so reden und schreiben. Das Weiße Haus übrigens ist sich des Dilemmas bewusst. Im gesamten Onlineauftritt der US-amerikanischen Regierungszentrale ist keine einzige Formulierung zu finden, die auf Obamas Hautfarbe abhebt. Das erscheint mir vernünftig und konsequent. Denn angesichts der Herkunft könnte man Obama mit gleichem Recht als Schwarzen wie als Weißen bezeichnen.

Wer ihn dennoch zum Schwarzen macht, übernimmt einen Maßstab, der üblicherweise von Rassisten, Freunden der Rassentrennung und anderen Anhängern unapettitlicher Gesinnungen benutzt wird. So bleibt ein alter Appell des Musikers Garland Jeffreys aktuell:
Father of coal, mother of pearl
Never too black to blush to pick up a white girl
The color of you, the color of me
You can’t  judge a man by looking at the marquee
(aus „Hail Hail Rock ‚N‘ Roll“ vom Album „Don’t Call Me Buckwheat“).

Deutungshoheit über die Deutungshoheit

Seit der Gründung des Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation gibt es wieder mal Streit darüber, was Wissenschaftskommunikation kann, soll und darf. Geben wir dem NaWiK eine Chance.

Michael Sonnabend fordert in seinem Blog, dass die Wissenschaft das Zuhören lernen solle. Der Dialog zwischen Forschern und Bürgern finde nicht statt, und wenn doch, sei er durch den „Anspruch auf Deutungshoheit“ verdorben, den die Wissenschaft nicht verlieren wolle. „Es geht um die Verteidigung von Pfründen und das ist der denkbar schlechteste Antrieb, um mit dem Bürger ins Gespräch zu kommen. Denn wer wirklich kommunizieren will, hört erst einmal zu. Und genau das geschieht nicht. Wissenschaftskommunikation kommt mir vor wie eine aufdringliche Person, die sich sozial gibt und dann doch nur von sich selbst spricht“, schreibt Sonnabend. Starke Worte. Das Problem: „Die Wissenschaft“ gibt es nicht. Es gibt Wissenschaftsinstitutionen, Universitäten, Dachorganisationen, Fachverbände. Und es gibt die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Hierarchieebenen, vom Doktorand bis zum Präsidenten. Ich hege die Vermutung, dass nicht alle diese Personen dieselben Interessen teilen. Das gilt auch auf dem Feld der Wissenschaftskommunikation.

Selbst bei den Präsidenten und anderen Oberbossen der Wissenschaften ist nicht so ganz klar, welche Motive hinter dem Engagement für die Wissenschaftskommunikation stecken. Zwar ist es deren wichtigster Job, die Interessen der eigenen Institution zu wahren. Doch selbst auf den Chefetagen findet man doch Indizien, dass das gesellschaftliche Rollenverständnis der Wissenschaftler differenzierter ausfällt, als Sonnabend meint.

So kann zum Beispiel der Berufsverband der Wissenschaftsjournalisten WPK (www.wpk.org) seit der Gründung vor über 25 Jahren auf die Unterstützung der Wissenschaftsorganisationen zählen. Kuratoren und Freunde und Förderer bringen einen nicht unwesentlichen Teil des Budgets auf – ein klares Indiz für die hohe Bedeutung, die den Wissenschaftsjournalisten von den Wissenschaftlern zugemessen wird. Vor allem aber ein Indiz dafür, dass die Chefwissenschaftler Interesse an einem guten und professionellen – das heißt vor allem: unabhängigen – Wissenschaftsjournalismus haben.

Die Entwicklung hat auf beiden Seiten Früchte getragen. Es gibt heute so viel guten Wissenschaftsjournalismus wie nie. (Okay, das muss nicht so bleiben, der Journalismus steckt in der Krise. Aber das ist ein anderes Thema) Und es gibt immer weniger Akteure in Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen, die dem Missverständnis aufsitzen, dass der Wissenschaftsjournalismus in erster Linie eine vermittelnde und übersetzende Funktion habe. Solche Professoren wollen nicht nur eigene Zitate autorisieren, sondern ganze journalistische Artikel gegenlesen (und ggf. korrigieren). Man ist verstimmt, wenn sich Wissenschaftsjournalisten nicht als Sprachrohr der Wissenschaften benutzen lassen. Doch diese Haltung stirbt langsam aus.

Der Grund dafür liegt darin, dass mit den verstärken Aktivitäten der Wissenschaftler in der Wissenschaftskommunikation ebendiese Leute mehr Verständnis für die Interessen und Belange anderer gesellschaftlicher Gruppen entwickelt haben. PUSH führt zu SUP. Waren 1999 die Wissenschaftler angetreten, um für mehr Public Understanding of Sciences and Humanities, PUSH, zu sorgen, entwickelte sich zugleich auch mehr SUP, Scientists’ Understanding of the Public.

In dieser Entwicklung ist die Gründung des Nationalen Instituts für Wissenschaftskommunikation NaWiK (www.nawik.de) ein, wie ich finde, folgerichtiger Schritt. Was er wert ist, sollen seine Gründer und Macher jetzt zeigen. Geben wir ihnen die Chance.

Die falsche Schlacht

Sprachhüter warnen: Die deutsche Sprache ist bedroht. Englisch verdränge sie aus den Wissenschaften. Doch was ist so schlimm daran, wenn schlechtes Englisch schlechtes Deutsch ersetzt? Das Wissenschaftsdeutsch, das in den meisten Disziplinen gepflegt wird, taugt wenig.

Verteidiger der Wissenschaftssprache Deutsch haben ein beliebtes Argument. Es geht so: Wenn deutsche Wissenschaftler auf Englisch publizieren, verlieren sie die gesellschaftliche Bodenhaftung. Verschwindet Deutsch aus den Wissenschaften, verstummt der Dialog zwischen Experten und Laien. In einem Dossier der Literaturwissenschaftlerin Constanze Fiebach für das Goethe-Institut vom Dezember 2010 liest sich das so: „Wenn nun auf das Deutsche als Wissenschaftssprache verzichtet würde, ergäbe sich eine Kluft zwischen den Wissenschaftlern auf der einen und dem Rest der Gesellschaft auf der anderen Seite. … Alltagssprache und Wissenschaftssprache sind im Deutschen eng miteinander verknüpft.“ (Deutsch als Wissenschaftssprache – deutsche Sprache, quo vadis? www.goethe.de/lhr/prj/diw/dos/de6992833.htm)

Dieses Argument ist leider kompletter Unfug.

Zwar gibt es Begriffe aus den Wissenschaften, die den Sprung ins Alltagsdeutsch geschafft haben – der „Quantensprung“ aus der Physik etwa. Seinen Sinn aber hat er dabei ins Gegenteil verkehrt. Der Physiker denkt an eine minimale Zustandsänderung in der Elektronenhülle eines Atoms, normale Leute an einen gewaltigen Fortschritt. So kommt ein winziger Hüpfer zwar groß heraus. Aber als Werkzeug der Verständigung zwischen Laien und Experten ist das Wort nicht mehr zu gebrauchen.

Was die Verteidiger der Muttersprache zudem gern übersehen: Wissenschaftsdeutsch ist schlechtes Deutsch. Die Fachsprache in Aufsätzen und Fachbüchern ist auf unpersönliche Präzision und Abstraktion getrimmt. Das Passiv regiert, es wimmelt von Bandwurmsätzen, und der Nominalstil wuchert durch die Seiten. Dieser Text zum Beispiel darf maximal 300 Wörter haben. Bei Niklas Luhmann (1927 – 1998), dem bedeutenden Bielefelder Soziologen, reicht das für sechs Sätze.

Es dauert gut zehn Jahre, um aus jungen Leuten Wissenschaftler zu formen. Gutes Deutsch bleibt dabei auf der Strecke. Es sind gleichermaßen traurige Alternativen, wenn sich deutschsprachige Forscher in unbeholfenem Englisch oder stillosem Deutsch ausdrücken. Deshalb wäre es wichtig, an den Milieubedingungen der Wissenschaften anzusetzen. Die Kämpfer gegen das Vordringen des Englischen schlagen einfach die falsche Schlacht.

Frank Stäudner

Eine Fassung des Artikels erscheint im Tagungsband zur Konferenz „Deutsch in den Wissenschaften“, die im November 2011 in Essen stattfand. Zur Konferenzhomepage.

Bahngeschichten 5: Die Serengeti der Fahrräder

Vor dem Heidelberger Hauptbahnhof erstreckt sich die offene Weite des Willy-Brandt-Platzes – wenn da nicht viele hundert Fahrräder der Pendler wären. Dicht an dicht stehen rostige Zweiräder und recken ihre Sättel und Lenker in die Luft.

Zu Tausenden grasen Gnus und Zebras die Serengeti-Savanne ab. Aus der Luft wirkt es fast, als formten die großen Antilopen eine einzige Masse lebender Leiber. Die Tiere fressen sich Fettpolster an, bevor die Trockenzeit die Steppe in Staub verwandelt. Bald steht die große Wanderung in neue Weidegründe bevor. Was für ein gewaltiges Schauspiel! Auf dem Heidelberger Bahnhofsvorplatz bahnt sich etwas Ähnliches an.

Zu Hunderten stehen die Fahrräder der Pendler in Reih und Glied in den Fahrradständern. Kein Poller und keine Laterne, an der nicht rostige Zweiräder angekettet sind. Selbst der Pavillon der Touristeninformation muss als Abstellplatz herhalten.

Wer später zur Arbeit fährt, findet alle Ständer belegt vor und quetscht sein Fahrrad halt irgendwo dazwischen. Das hinterlässt Spuren: hier ein abgerissenes Dynamokabel, dort ein zerschlitzter Sattel, Rost allenthalben. Ein stolzes Pendlerrad trägt seine Narben mit Würde. Das Kalkül der Besitzer scheint klar: Sich in die heruntergekommene Masse des Schwarms unauffällig einzufügen, ist die denkbar beste Diebstahlsicherung.

Doch es droht Gefahr. Die Zahl der Fahrradleichen steigt. Der geübte Blick erkennt sie sofort: platte Reifen, krumm getretene Räder. Manches von seinem Besitzer verlassene Rad dient bereits als Ersatzteillager. Dann fehlen Sattel, Bremsgriff oder Kabel. Das ruft die Gesundheitspolizei der Savanne auf den Plan. Mitarbeiter der Bahnhofsverwaltung verpassen den verdächtigen Vehikeln eine Markierung, meist eine farbige Banderole am Oberrohr.  Jetzt wird’s eng. Wurde das Rad auch nach Tagen und Wochen nicht bewegt, wird es eingesammelt. Anfang Oktober nun kommen die herrenlosen Fahrräder in einer öffentlichen Versteigerung unter den Hammer. Die große Wanderung beginnt.

Frank Stäudner

Der Donnervogel ist abgestürzt

Computerpannen bringen poetische Blumen zum Erblühen. Und es ist viel höflicher, E-Mails zu schreiben, als anzurufen. Wer hätte das gedacht?

Medientheoretiker Marshall McLuhan zufolge bekommt in unserer Welt der Massenmedien jedermann seinen Moment der Berühmtheit. Bekannter ist die These in einer Formulierung des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol aus dem Jahr 1968  („In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.“). Gemeint ist: In jedem von uns steckt ein Künstler. Heute lautet nunmehr meine neue These (gewissermaßen Warhol 2.0): In jedem von uns steckt ein Dichter. Das zeigt sich in den besonderen Momenten unfreiwilliger Alltagspoesie. Originell ist der Gedanke vielleicht nicht, schön aber doch. Vor wenigen Minuten hörte ich:

„Eben ist der Donnervogel abgestürzt.“

Der Satz hat alles, was ein Gedicht braucht: Die Sprache ist bildhaft, die Assoziationen sind farbig. So redet man heutzutage in den Büros. Wie schön. Genau genommen lautete der Satz: „Thunderbird ist wieder mal abgestürzt.“ Aber nicht das mächtige Fabelwesen der indianischen Mythologische ist vom Himmel gefallen. Die kostenlose (und deshalb beliebte) E-Mail-Software von Mozilla macht Scherereien.

Keine E-Mails senden zu können, ist so ziemlich das Schlimmste, was einem im Büro passieren kann. Zwar wird neuerdings der Tod der E-Mail ausgerufen (zum Beispiel hier; die Widerrede steht da). Aber nach meiner bescheidenen Einschätzung hat die elektronische Post die Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr bereichert als, sagen wir, Fax, Locher und Post-it-Haftnotizen. Das merkt man immer dann, wenn sie ausfällt. Am Telefon erreicht man die wichtigen Leute nie, da muss man sich eine Woche im Voraus verabreden. Und dann fallen die Leute aus allen Wolken, wenn sie das Anliegen hören, und man verabredet, die Sache aufzuschreiben und per Mail zu schicken. Briefe verlangen viele zusätzliche und langsame Arbeitsschritte (Ausdrucken, Eintüten, Zur Post tragen). Vor allem aber lässt die E-Mail dem Empfänger die Freiheit, sich dann damit zu beschäftigen, wenn er (oder sie) es möchte. E-Mails sind also höflich.

Missbrauch („Kopie an alle“) steht auf eine anderen Blatt. Aber zurück zu Thunderbird: Der Donnervogel hat sich wieder erhoben. Die Kaffeepause ist vorbei, die Arbeit kann weitergehen. Als erstes schreibe ich eine Mail an alle meine Sammelverteiler.

Frank Stäudner

Hände hoch

Sportler geben sich heutzutage nicht mehr die Hand. Sie klatschen sich ab. Autoritätspersonen wie etwa Schiedsrichter begrüßen sie noch auf die herkömmliche Art. Damit betont das Händeschütteln zugleich Distanz (zwischen Spieler und Referee) und schafft kumpelhafte Nähe (zwischen den Spielern der gegnerischen Mannschaften). Bei der Fußballeuropameisterschaft 2012 ist das gut zu besichtigen. Ein kulturphilosophischer Versuch, diesen Wandel zu verstehen.

Die Tennisspieler haben damit angefangen. Irgendwann nach dem Jahr 2000 entstand eine neue Mode. Spitzenspieler ersetzten das rituelle Händeschütteln nach dem Ende des Matches durch die amerikanische Art der kumpelhaften Begrüßung mit erhobenen Händen. Sie gaben sich „high five“, sie klatschten sich ab. Jahrzehntelang war das  anders. Im Januar 1981 gewann Björn Borg gegen Ivan Lendl das Mastersturnier in New York. Danach gab es zwischen beiden einen konventionellen Handschlag, siehe hier. Auch Boris Becker und Brad Gilbert gaben sich 1989 noch auf konventionelle Weise die Hand, ebenso Jim Courier und Mark Philippoussis 1995 oder Andre Agassi und Pete Sampras 1999 in Wimbledon. 2003 klatschten sich Roger Federer und Andre Agassi nach dem für Federer siegreichen Mastersfinale bereits ab (http://www.youtube.com/watch?v=tTB0-8WuWXo). Seither hat das Abklatschen das normale Händeschütteln in vielen Sportarten verdrängt.

Im Fußball entstand eine besonders interessante Situation. Dort gibt es inzwischen zwei Arten des Händeschüttelns. Untereinander klatschen sich die Spieler kumpelhaft ab, den Schiedsrichtern schütteln sie auf konventionelle Art die Hand. Das war beispielsweise so beim Relegationsrückspiel zwischen Hertha BSC Berlin und Fortuna Düsseldorf am 16. Mai 2012, das ansonsten eher durch den verfrühten Platzsturm der Fans in Erinnerung ist. Auch bei den allermeisten Spielen der jetzt ausgetragenen Fußballeuropameisterschaft praktizieren die Spieler beide Arten des Händeschüttelns. Untereinander klatschen sie sich nach dem Absingen der Hymnen ab, die Schiedsricher bekommen einen normalen Handschlag. Besonders interessant: Auch die Schiedsrichter klatschen sich ab.

Was passiert hier? Ich vermute, dass die Spieler unbewusst zugleich Distanz und Nähe herstellen. Untereinander drückt der erhobene Handschlag Zugehörigkeit aus. Obwohl sich die Spieler beider Mannschaften auf dem Platz als Gegner gegenüberstehen, gehören sie doch alle einer Gruppe an. Zugleich schafft die Variation der Begrüßung Distanz zu den Schiedsrichtern. Hier drückt sich aus: Ihr gehört nicht dazu. Was ja stimmt.

Es werden also Rollenbilder gefestigt, Funktionen bekräftigt und Reviere abgesteckt. Auch andere soziale Gruppen haben Rituale ersonnen, um die Gemeinschaft nach innen zu bekräftigen und die Differenz nach außen zu betonen. Man denke an die elaborierte Begrüßung, die die Bandenmitglieder einer US-amerikanischen Straßengang unter sich austauschen. Ähnliches ist in der Hip-Hop- oder Rap-Szene zu beobachten. Auch auf Schulhöfen wird man fündig: http://videos.rofl.to/clip/lange-begruessung. Jede Gang hat eigene Rituale, Farben, Tätowierungen. All das dient der Betonung der Differenz: Hier sind wir, dort sind die Anderen. Vergleichbares leisten die beiden Arten des Händeschüttelns im Fußballsport. Ob die unter Profifußballern beliebten großflächigen Tätowierungen auch eine soziale Funktion haben und eine bestimmte Botschaft ausdrücken sollen – das ist eine andere Frage. Und gehört in einen neuen Blog. Vielleicht wollen die TV-Fußballexperten Mehmet Scholl und Oliver Kahn die Frage des Händeschüttelns und seiner tieferen Bedeutung demnächst mal erörtern. Sie sind herzlich eingeladen.

Ist der Geist das eigentlich Menschliche?

Im Essener Cafe philosophique standen am Pfingstsonntag die Eigenheiten und Eigentümlichkeiten der menschlichen Existenz zur Debatte.

Die Grundidee des Cafe philosophique: Jeder Teilnehmer kann ein philosophisches Thema vorschlagen. Per demokratischem Mehrheitsbeschluss wird ausgewählt. Philosophische Fachkenntnisse werden nicht vorausgesetzt, Lust am Diskutieren und am Austausch von Argumenten hingegen schon.

Ist der Geist das eigentlich Menschliche? Die Frage der Themengeberin (Frau Hubert) rührt an philosophische Kernthemen – Gelegenheit zu einem Rundgang durch die Philosophiegeschichte von der Bibel bis zur Neurophilosophie, der Theory of Mind und zu tierethischen Fragen.

Was gehört zum Geist? In einer ersten Debatte nähert sich die Caferunde dem Begriff phänomenologisch. Will sagen: Wir versuchen nicht eine Wesensbestimmung, sondern suchen nach den Bedeutungsinhalten de Begriffs. Wut, Aufgebrachtheit, Begeisterung, Angst oder Schmerz machen demnach ebenso den menschlichen Geist aus wie Vernunft, die Fähigkeit zur vorausschauenden Planung und ein Bewusstsein seiner Selbst. Im Begriff des Geistes verbinden sich demnach Emotion und Intellekt. Auch metaphorische Anläufe zur Begriffsbestimmung gibt es: „Der Geist ist der Torwart der Seele“, meint  Herr Hartwig.

Zwar wird der Geist als etwas spezifisch Menschliches aufgefasst. Inwieweit daraus aber eine kategoriale Differenz zu den Tieren entsteht, bleibt offen. Einige Teilnehmer zählen neben Emotionalität und Vernunft die Spiritualität sowie das Unterscheidungsvermögen zwischen Richtig und Falsch, also die moralische Urteilskraft, zu den wesentlichen Facetten des Geistes. Hierin lauert allerdings eine Gefahr: „Geist“ zu vergegenständichen (zu substanzialisieren) und von seinem menschlichen Körper zu lösen.

Die Runde bemerkt, dass Tiere über viele Merkmale des menschlichen Geistes zumindest in Ansätzen verfügen. Dies scheint dafür zu sprechen, dass es kein kategoriale Differenz zwischen Mensch und Tier gebe. Herr Brandhorst argumentiert allerdings überzeugend, dass Quantität in Qualität umschlage, sobald der Geist eine Wirkmacht erzeuge, wie sie nur der Mensch besitze – etwa, mit Atomwaffen die eigene Existenz zu vernichten.

Was passiert, wenn der Geist schwindet, blieb als Frage stehen, die zu vertiefen sich lohnt. Denn die Gefahr einer geistigen Umnachtung im Alter droht vielen.

Abschließend Antworten gab es am Ende nicht. Das wäre auch zutiefst ‚unphilosophisch‘. Eines aber wurde klar: Wenn „Geist“ lediglich als eine Chiffre für die besonderen Eigenarten und Fähigkeiten des Menschen steht, dann wird die Frage „Ist der Geist das eigentlich Menschliche?“ zu „Ist der Mensch menschlich?“ und damit tautologisch. Ihre Antwort kann dann nur „Ja“ lauten.

Der Dank für eine engagierte Diskussion geht an die Damen und Herren Hubert, Krieger, Keukens, Pelzer, Lauschkin, Brandhorst, Ruppelt, Findeisen, Hartwig, Busse und Hinken. Gern kann der Gedankenaustausch elektronisch fortgesetzt werden. Die Kommentarfunktion ist offen.